Das Thema Organisierte Kriminalität, so ist mein Eindruck, ist in den Medien im Aufwind. Das freut mich, weil es lange genug ein Schattendasein fristete und wir heute die Auswirkungen dessen spüren, zum Beispiel dass Geldwäsche-Aktivitäten im Immobilienbereich die Preise und damit auch die Mieten hochtreiben. Es ist wichtig, dass darüber informiert wird. Besonders freut es mich, dass ich mich heute mit einem Team von Produzenten getroffen habe, die eine Serie zum Thema Organisierte Kriminalität konzipieren. Ich glaube, dass gut gemachte Unterhaltung (wie etwa die ZDF- und Arte-Serie Bad Banks) wichtige Informationen in einer interessanten Verpackung anbieten kann. Wenn ich dazu beitragen kann – wie etwa bei dem von Patrick Brunken geschriebenen Tatort „Kopper“ vom Anfang dieses Jahres – bin ich froh. Schauen wir mal, was aus diesem Treffen wird…
Das starke Geschlecht – Frauen in der Mafia
Frauen sind schwach.
„Selbst die Frauen, die mit einem Mafioso verheiratet sind oder aus einer Mafiafamilie stammen, halten sich nicht mehr an das Schweigegelübde, werden sie erst einmal von höchsten Gefühlen erfasst“, sagt Antonio Calderone, einst ein Mafiaboss in Catania.
Frauen sind geschwätzig.
„Ich habe meiner Frau klar gemacht, dass sie mich nichts über meine Arbeit fragen darf“, sagt Antonio Saia, einst ein Mitglied des Clans der Catanesi. „Ich wollte sie als Frau nicht in meine Sachen einbeziehen. Wissen Sie, sie redet dann mit Freundinnen, und seinen Freundinnen vertraut man sich dann doch mal an.“
Frauen sind vor allem Mütter.
Und sie gehen in die Kirche, die Mafiosi wichtig ist.
So verkaufte das die Mafia und so wurde das auch geglaubt.
So mag es früher auch gewesen sein. Doch die Zeiten ändern sich, selbst im Männerland Italien, und die Emanzipation macht selbst vor der organisierten Kriminalität nicht halt. Welches Geschlecht wirklich schwach ist, da hat I.M.D. keine Zweifel. I.M.D. arbeitet seit mehr als zehn Jahren in einer Sondereinheit der Polizei von Palermo, die in Sizilien Jagd auf ranghohe Mafiosi macht – und dabei auch erfolgreich ist. Die Jäger von der „Catturandi“ haben Bernardo Provenzano festgenommen, Capo der Cosa Nostra auf Sizilien und einer der meistgesuchten Mafiosi Italiens, dazu Salvatore Lo Piccolo und seinen Sohn Sandro, zwei weitere kriminelle Schwergewichte, der eine ein Mörder, der andere ein Drogenhändler. I.M.D. war an beiden Operationen beteiligt und gibt aus Angst um sein Leben seinen Namen nicht preis. „Während all der Zeit, die ich jetzt als Jäger flüchtiger Mafiosi aktiv bin, ist es kein einziges Mal passiert, dass einer der Bosse keinen Kontakt mit den eigenen Frauen hatte, den Müttern, Schwestern, Frauen, Liebhaberinnen und Töchtern“, berichtet er.
Manchmal helfen die Liebeleien den Ermittlern, sie werden zur Spur, die zum Erfolg führt, berichtet I.M.D.: „Vito Vitale, Pino Guastella und andere haben wir dank ihren Freundinnen und Liebhaberinnen gefunden – obwohl die Frauen natürlich komplett in die Maßnahmen eingebunden waren, die ihre Partner vor ihrer Entdeckung schützen sollten.“ Neun Jahre lang war I.M.D.s Einheit etwa Bernardo Provenzano auf den Fersen, kreiste seine Aufenthaltorte immer weiter ein. Provenzano ließ seiner Geliebten Saveria Benedetta Palazzolo regelmäßig zärtliche Botschaften zukommen. Später heiratete er sie – wohlgemerkt, während er im Untergrund lebte! Ein katholischer Priester gab seinen Segen dazu, das Einwohnermeldeamt natürlich nicht, weshalb die Hochzeit nicht rechtskräftig ist. Palazzolo, die heute noch flüchtig ist, verwaltet seit der Festnahme vor drei Jahren dessen Reichtum. Frauen sind also in der Mafia keineswegs unbedeutend, so gering ist ihre Rolle heute nicht. Das von den mafiösen Organisationen aufgebaute Bild der schwachen Frau hat noch nie ganz gestimmt.
Sicher ist, dass die Familie die Keimzelle der Kriminalität ist. Hier werden die Werte vermittelt, hier werden Heiraten schon in Kinderjahren beschlossen, hier wird die Macht über einen Clan weitergegeben. Wie bei normalen italienischen Familien ist auch bei Mafiafamilien die Mamma der Mittelpunkt. Wie wichtig die Rolle der Mutter ist, zeigt sich auch darin, dass die Cosa Nostra sich gerne Begriffen aus der Familienwelt bedient: „Mamma“ bezeichnet die Organisation als Ganzes, die einzelnen Clans werden auch „Familien“ genannt.
Doch es gab schon früher Frauen, die mehr als eine Mafia-Mamma waren. Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, im Jahr 1904, gab es in Palermo einen Gerichtsprozess, in dem sich mehrere Frauen sich für ihre Taten verantworten mussten. Die Richter damals stellten fest, dass die Angeklagten keineswegs nur unterstützend tätig waren, sondern sich selbst „an den kriminellen Aktivitäten der Mafia-Gruppe beteiligt hatten“.
An sich ist die Situation eindeutig: Es gibt einen klaren Aufnahmeritus für Mitglieder der Clans. Archaisch geht es dabei zu, eine ewige Blutsbrüderschaft wird mit einem Tropfen Blut begründet, ein Heiligenbildchen wird in der Hand des Aufzunehmenden angezündet, er wird es bis ans Ende seiner Tage bei sich tragen. Nur Männer werden Teil der Mafia, Frauen bleiben ausgeschlossen. Macht können sie trotzdem erlangen. Boss dürfen Frauen zwar formal nicht werden, zumindest nicht bei der Cosa Nostra auf Sizilien und der Sacra Corona Unita aus Apulien. Doch selbst das hielt einige Frauen nicht davon ab, dort die Macht zu erlangen.
Es gibt das Beispiel von Angela Russa, der sogenannten Heroin-Oma der sizilianischen Cosa Nostra. Sie baute einen mächtigen Familienbetrieb auf und handelte mit Drogen. Die Ware ließ sie vom italienischen Festland anliefern. „Ich habe keine Päckchen vom einen Teil Italiens zum anderen getragen“, sagt sie. Von ihrer Wohnung
„Ich habe von Beginn an kommandiert.“ Im Jahr 1982 hatte es sich auskommandiert. Russa wurde festgenommen, im stolzen Alter von 74 Jahren.
Mit vielen Morden hatte sich der Antonino Cintorino, ebenfalls ein Angehöriger der Cosa Nostra, einen Namen gemacht. Er befehligte den Clan in Calatabiano, der in Taormina und Umgebung aktiv war. 1993 verhaftete die Polizei quasi die gesamte Führungsriege, doch der Clan machte weiter, als sei nichts passiert. Als die Ermittler die Telefone von Cintorinos Frau Maria Filippa Messina abhörten, wussten sie warum: Sie hatte die Geschäfte übernommen. Messina besorgte Waffen und engagierte Killer, um einen rivalisierenden Clan zu eliminieren. Dann griffen die Ermittler zu, zwei Jahre nachdem sie die Macht an sich genommen hatte, landete auch sie im Gefängnis. 13 Jahre und vier Monate lautete das Urteil. Das wirklich Besondere daran war aber, dass zum ersten Mal überhaupt eine Frau zum „carcere duro“ verurteilt wurde, eine besondere Art der Isolationshaft für Mafia-Angehörige.
Lange waren die Mafia-Organisationen wie eine Black Box, von außen zu sehen waren nur die oft blutigen Taten. Mitte der Achtziger Jahre kam aber etwas Licht in das Innenleben der Mafia. Den Fahndern gelang es, den Druck auf die Organisation zu erhöhen, vor allem in Sizilien. Immer mehr Mafia-Angehörige beschlossen, sich gegen die Organisation zu stellen und mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Die 1991 geschaffene Kronzeugenregelung förderte diesen Prozess weiter.
Schließlich beschäftigten sich einige Forscherinnen mit der Thematik. „Ich habe mich in den Achtziger Jahren mit den Frauen im Süden befasst, so kam ich auch zum Thema ‚Frauen und die Mafia’“, sagt die Soziologin Renate Siebert. Sie ist eine gebürtige Deutsche, lebt aber seit fast vierzig Jahren in Italien und lehrt an der Universität della Calabria. „Ich habe mich damals nur auf Sekundärmaterialien gestützt, habe keine empirische Studie gemacht. Aber meine 1994 erschienene Arbeit war die erste, die das Thema so umfassend analysiert hat.“
„Wir bekamen damals Einblick in die Familien, die ja eher eine verschlossene Welt sind“, berichtet die Soziologin. Sie konnte damals die Aussagen von verhafteten Mafia-Chefs analysieren. „Es gab Fälle, in denen einige Mitglieder einer Familie mit der Justiz zusammenarbeiteten, andere weiterhin in der Mafia blieben, und Frauen waren zwischen beiden Polen hin- und hergerissen.“
Besonders dramatisch verlief aus diesem Grund das Leben von Vincenzina Marchese, die Tochter eines Mafioso war und dazu Frau des Bosses Leoluca Bagarella. Ihr Bruder Pino entschied sich dafür, als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft zu dienen. Vincenzina Marchese war selbst in kriminelle Aktivitäten involviert. Kurz vor ihrem Selbstmord war sie besessen von der Angst, überraschend von der Polizei gefasst zu werden.
Früher wurden Frauen oft nicht für ihre Taten verurteilt, da sie ja – gemäß dem von der Mafia selbst verbreiteten Bild – zu schwach seien, um an kriminellen Aktivitäten teilzunehmen. Staatsanwälte übernahmen dieses Bild und bewahrten es zudem – zu lange. Denn was in den Neunzigern aus der Not heraus startete, nämlich der Not, dass viele Männer inhaftiert wurden, hat sich zu einem Gutteil zur Normalität entwickelt: Heute sind Frauen im Dienst der Mafia keine Einzelfälle mehr, einem Bericht zufolge sind sie oft voll in das kriminellen Tun eingebunden. Häufig verwalten sie die Finanzen und schließen Geschäfte ab. Lediglich bei Delikten mit Waffen ist ihre Beteiligung auffällig geringer.
Der Oberste Gerichtshof in Italien sah sich vor diesem Hintergrund im Jahr 1999 genötigt, eine neue Sicht auf Mafiafrauen anzumahnen: „Dem Untersuchungsrichter ist die Aufgabe anvertraut, die innerfamiliäre Zusammenarbeit der Angeklagten zu bewerten und festzustellen, ob diese Ausdruck einer Mitgliedschaft in der kriminellen Vereinigung ist und den Zielen dieser dient“, steht in einem Urteil geschrieben. Die Untersuchungsrichter sollen sich bei ihrer Arbeit an die konkreten Fakten halten – und nicht an überlieferte Vorstellungen.
Damit dürften auch die letzten Richter im Land verstanden haben, dass es das Heimchen am Mafiaherd so kaum mehr gibt. Die Zahlen von Verurteilungen sprechen eine deutliche Sprache: 1990 war nur eine Frau wegen des Mafiaparagraphen 416 bis verurteilt worden, zwei Jahre später später waren es schon zehn, 1994 gar 16 Frauen. Diese Zahl stieg weiter stark an: 1995 auf 89 verurteilte Frauen, und im Jahr 2000 waren es dann allein in Sizilien 43 Frauen. Diese Zuwachsraten übertreffen die der Männer bei Weitem.
Wie wichtig die Frauen der Bosse sind, bekommen Staatsanwälte immer wieder vor Augen geführt, wenn sie mit Gefangenen über die Kronzeugenregelung verhandeln. Die Mafiosi auf dem Stuhl vor ihnen wollen die Entscheidung meist erst mit ihrer Frau besprechen. So sagte der Mafia-Boss Antonio Calderone zu den Ermittlern: „Ich rede erst, wenn meine Frau da ist. Ich möchte vor ihr sprechen und ihr wie Ihnen etwas sagen, die ihr Männer des Gesetzes seid.“ Das Problem war nur: Seine Frau kam nicht.
Am Morgen um Acht hatten sich die Ermittler und der Boss in Rom getroffen. Calderone schwieg. Die Ermittler warteten. Zwölf Stunden später traf seine Frau dann endlich ein. Die Ermittler mussten Calderone versichern, sich um ihr Wohlergehen und das seiner drei Kinder zu kümmern. Dann redete Calderone. Und redete. Und redete.
Am Ende standen 160 Haftbefehle.
18.6.2018 Vortrag an der Uni Tübingen
Seit ich meinen Hochschulabschluss der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Tasche habe, bin ich oft in die Stadt zurückgekehrt: vor allem um Freunde zu besuchen, einmal auch um ein Seminar zu halten, für die Talkshow Querfeldein. Am Montag, 18 Juni, bin ich wieder da, dieses Mal – und das ist mir eine besonders große Ehre – für einen Vortrag in der Neuen Aula (um 19 Uhr c.t. im Hörsaal 9). Das Institut für Kriminologie hat mich eingeladen, im Rahmen des kriminologisch-kriminalpolitischen Arbeitskreises über die Mafia in Deutschland zu referieren. Titel des Vortrages ist: Das gute Deutschland und die böse Mafia – ein halbes Jahrhundert friedliches Miteinander? Das mag zunächst irritierend klingen. Dass man das Thema ernsthaft diskutieren kann, wird hoffentlich der Abend zeigen. Ich werde in meinem Vortrag einer Frage nachgehen, die mich seit vielen Jahren beschäftigt, nämlich der, warum Deutschland nicht stärker gegen die Organisierte Kriminalität vorgeht, den Clans das Geld wegnimmt, überhaupt Geldwäsche mehr in den Fokus der Strafverfolgung stellt. Aber keine Sorge, mein Vortrag wird sehr praxisnah ausfallen.
Geküsst und verraten?
Ich erinnere mich noch, wie irritiert ich war nach unserem ersten Treffen. Es kommt in meinem Beruf als Reporter zwar immer wieder vor, dass man dem Bösen begegnet, zumal wenn man wie ich regelmäßig über die Mafia berichtet. Dieses Mal aber hatte ich einen leibhaftigen Mörder vor mir, einen Mann, der mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Einige Widersacher hatte
er selbst erschossen, andere erschießen lassen. Doch dieser Mann war mir sympathisch, sehr sogar, und das machte dieses Treffen erst wirklich eigenartig. Ich hatte geradezu Mitleid mit ihm, denn er hatte sein altes Leben als Mafoso aufgegeben, sein neues Leben als Kronzeuge aber glich einer Misere.
Ein Freund und Kollege aus Italien hatte mich kontaktiert, ein Kronzeuge der ’ndrangheta, also der kalabrischen Mafa, packe aus und rede auch über Deutschland; ich solle schnell kommen. So stand ich also Luigi Bonaventura gegenüber: Etwa so alt wie ich, etwas kleiner, weiche Gesichtszüge und mit einer völlig anderen Lebenserfahrung.
Als Kind schon hatte er schießen gelernt, beherrschte Maschinengewehre und Pistolen, früh beging er den ersten Mord, eine Prüfung. Schließlich war er Chef des mächtigsten ’ndrangheta-Clans in Crotone geworden, einem der Hotspots der ’ndrangheta ganz im Süden von Kalabrien. Bonaventura hatte Blut gesehen und die Hirnmasse eines Kontrahenten von seinem Lederschuh gewischt. Ich war ein Reporter, stammte aus einer soliden Mittelklassefamilie in einem schwäbischen Dorf und tötete aus Tierliebe keine Mücken. Wir hätten gegensätzlicher nicht sein können.
Wir trafen uns mehrmals zu Gesprächen, nicht nur über die Mafa, sondern über alles Mögliche. Irgendwann begrüßten wir uns, wie in Italien üblich, mit Wangenküsschen. Hatte Bonaventura so vielleicht auch einmal einen Menschen dem Tode geweiht?
„In der Theorie“, sagt der Ex-Mafioso, „müsste es auch den Todeskuss geben.“ Ist der Kuss eines Bosses, der den zu Tötenden markiert, also nicht nur eine fixe Idee von Spielfilmfabriken und Schriftstellerhirnen? Er selber habe jedoch noch nie dem Ritual eines Todeskusses beigewohnt oder gar einen solchen gegeben, berichtet Bonaventura.
Acht Jahre war er der Boss des mächtigsten Clans in Crotone gewesen, dann wurde er Kronzeuge. Bonaventura hatte eingesehen, dass er seine Familie ins Verderben reißen würde, mit all den Mafiamorden und den Kriegen zwischen den Clans. Dass seine Kinder nie frei sein würden und womöglich ohne ihren Vater aufwachsen müssten. Also stieg er aus. Seitdem hilft er vielen
Staatsanwaltschaften bei Ermittlungen, auch jetzt noch, da Italien ihn nicht mehr schützt; der Staat hat seinen Kronzeugenvertrag nicht verlängert. Nun, da es sein Land nicht mehr tut, muss Bonaventura seine Familie selbst in Sicherheit bringen.
Die Mafia hat sich längst vom archaischen Männerbund gewandelt zu global agierenden, bestens vernetzten Einheiten, sie ist teils in der Wirtschaft aktiv, teils politisch oder auch militärisch. Die Mafa tritt heute auch in Form smarter Investmentbanker und hochproftabler Makler von erneuerbaren Energien auf, ist bestens ausgebildet und perfekt in das Wirtschaftsleben integriert. Ihre archaischen Rituale aber haben jede Wandlung überdauert.
Die MafiaOrganisationen haben sich seit ihrem Entstehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen rituellen Überbau aus unterschiedlichen kulturellen Sphären angeeignet. Es gibt ritualisierte Fechtkämpfe, wie man sie von deutschen Männerbünden kennt, Sitzungen, die einem Standardprotokoll folgen, das jedem Geheimorden zur Ehre gereichen würde. Und natürlich haben die Gruppen sich zahlreiche Praktiken einverleibt, die sie zuvor aus ihrem religiösen Kontext gelöst haben – die „Taufe“ ist eines der prominentesten Beispiele.
Auch der Kuss hat eine lange Tradition in der Mafia. Der einzelne Kuss auf die Wange dient als Begrüßungsgeste, und auch in den Zeremonien der Verbrecherbanden tauschen die harten Männer vermeintlich Zärtlichkeiten aus. Auch Bonaventura hat bei seiner „Taufe“, der Aufnahme in die ’ndrangheta, die Anwesenden geküsst, wie es die alten Regeln vorschreiben. Zunächst sprach der Capotavola, der Leiter der Zeremonie, die üblichen rituellen Worte. Dann gab er einen Tropfen Blut auf ein Heiligenbildchen, um den neuen Bund zu bestätigen, legte dieses Bild in Bonaventuras Hand und zündete es an. Zum Abschluss gab Bonaventura allen vier Anwesenden, den zwei rechts und links des Capotavola Sitzenden, je zwei Küsse auf die Wangen. Dem Capotavola
dagegen bezeugte er mit einem einzigen Kuss seine Ehrerbietung.
Ein besonders perfides Beispiel eines archaischen Rituals ist der Todeskuss, der böse Kuss. Allerdings scheint dieser Kuss eher Phantom und Ausgeburt der Fantasie denn Realität zu sein: Bei näherer Betrachtung findet sich kein Beleg für einen tatsächlich erfolgten Todeskuss in der Mafia. Wohingegen die Manifestationen in Film und Literatur wie etwa in Der Pate Legion sind. Die
Variation eines Todeskusses sah man in der Geschichte der Ermordung von Nicola Lo Faro, einem 45jährigen Anführer eines Clans in Catania, der ohne Rücksprache mit den Mächtigen im Clan ein Mitglied seiner Gruppe hatte töten lassen.
Polizisten hatten Lo Faro observiert und dabei gefilmt, wie er durch einen anderen Mafioso im Beisein von Kollegen umarmt wurde. Eine Woche später filmte eine Überwachungskamera den Mord an Lo Faro. Die Polizei konnte schnell ermitteln, was geschehen war und wer die Täter waren, auch wenn diese sich vermummt hatten: Die Umarmung hatte Lo Faro als zu Tötenden „markiert“, wie ein Gericht später feststellte. Es handelte sich in diesem Fall jedoch nicht um einen Kuss und schon gar nicht einen Kuss auf den Mund, wie der Mafiakuss literarisch
oft beschrieben wird.
Immerhin eine Todesdrohung lag im Kuss eines Mitglieds der Camorra: Der Mann hatte einen Gefolgsmann vor der Quästur in Neapel, inmitten einer Menschenmenge, auf den Mund geküsst. Um Liebe ging es dabei zweifellos nicht. „Halte die Lippen geschlossen, fange ja nicht an zu reden“, sollte dieser Kuss heißen, „sonst …“
Man könnte meinen, es stelle eine Perversion dar, wenn der Kuss, Geste der Zuneigung und Zärtlichkeit, als Todesdrohung benutzt wird. Aber so ist es nicht. Man irrt aufgrund einer allzu eingeengten Perspektive auf den Kuss. Die Geste trug in der Vergangenheit eine Vielzahl von Bedeutungen in sich; inzwischen sind die meisten von ihnen
unter anderen Bedeutungsschichten verschüttet worden.
Heute bezeugen wir einander unsere Zuneigung mit Begrüßungsküsschen auf die Wange, Liebe mit einem innigen Kuss auf die Lippen und Begierde mit sexuell aufgeladenen Küssen. Vielleicht mag man in der Kirche noch von einem Kuss als Besiegelung eines Vertrages sprechen, wenn sich die Lippen zweier frisch Vermählter im Anschluss an die Trauung berühren. Alle weiteren Funktionen des Kusses sind abwer aus der Alltagskultur nahezu verschwunden.
Wissenschaftler, die das Küssen studieren, kennen weit mehr Deutungen. Richard Hawley, Gräzist an der University of London, hat einen vielbeachteten Aufsatz über das Kussverhalten in der Antike geschrieben. Seine Studien zeigen, dass der Kuss zahlreiche Funktionen hatte, und deshalb auch eine Vielzahl von Bezeichnungen. Bei Alexander dem Großen etwa zeigte man mit ihm die Bereitschaft zu Unterwerfung und Gehorsam. Derartige Küsse fanden auch ihren Weg nach Rom, Tibull beschreibt den Kuss später als Siegeszeichen für eine Eroberung. Ebenfalls in Rom diente das Küssen auch der Besiegelung von Verträgen, wie dies heute ein Handschlag tut.
Das Küssen, so könnte man Hawley zusammenfassen, war in der Antike weit weniger erotisch konnotiert als heute. Hawley verweist auf ein weiteres Beispiel: Eine Tochter küsst ihren heimkehrenden Vater – es ist ein eifriger Zungenkuss. Keine fragwürdige TochterVaterBeziehung, sondern das Mädchen versuchte sich vielmehr ein paar Münzen aus dem Mund ihres Vaters zu angeln. Dieser behielt den Lohn für seine Arbeit auf dem Nachhauseweg oft im Mund – der Nachteil einer Toga ist, dass richtige Taschen fehlen.
Küsse erfolgten in der Antike zumindest in der Öffentlichkeit eher als Ausdruck von Wertschätzung zwischen Männern denn als Austausch von Zärtlichkeit zwischen Mann und Frau. Und auch zuhause wurde nicht nur aus Liebe geknutscht: Es ist beschrieben, dass Römer mit Küssen kontrollierten, ob ihre Frauen Wein getrunken hatten, was ihnen laut Hawley in Rom verboten war.
Erstaunlicherweise war es das Christentum, das in besonderem Maß den Kuss als reines Zeichen der Liebe proklamierte. Der Todeskuss der Mafa hat allerdings hier auch seinen prominentesten Urahnen im Kuss des Jüngers Judas, der Jesus mit dieser nur dem Anschein nach zärtlichen Geste an seine Verfolger verriet.
Manche dieser antiken Formen des Küssens finden wir heute im Aufnahmeritual der Mafiaorganisationen wieder. Luigi Bonaventura hat, wie eingangs beschrieben, bei seiner „Taufe“ mit seinem Kuss des Capotavola, des Menschen an der Stirnseite des Tisches, nicht nur seinen „Vertrag“ mit der ’ndrangheta besiegelt. Er hat mit dem einzelnen Kuss auf die Wange des Vorsitzenden der Zeremonie eine Hierarchie bekräftigt und sich ihr zugleich untergeordnet. Denn der Vorsitzende leitet die Zeremonie als Vertreter des Capo Sociatà, also des obersten Anführers der jeweiligen ’ndrangheta-Gruppe.
Der einzelne Kuss diente und dient heute noch als Zeichen der Ehrerweisung. Sieht man in Palermo zum Beispiel Männer sich mit einem einzelnen Wangenkuss begrüßen, kann man davon ausgehen, Leute vor sich zu haben, die zumindest keine große Distanz zu Mafiaorganisationen haben. Dieses Erkennungszeichen hat der Mafia aber auch des Öfteren schon Probleme mit der Polizei eingebracht. So zählte beispielsweise die New Yorker Polizei bei der Beerdigung des Paten John Gotti von der Familie Gambino, wer wen wie oft küsste. Es war damals unklar, wer die Macht in der Familie übernehmen würde, und das Küssezählen hatte sich zuvor schon in ähnlichen Fällen bewährt. Denn auch Gotti selbst hatte die Polizei auf diese Weise als neuen Anführer ermittelt.
Überhaupt tut sich die Mafa inzwischen schwer mit dem Küssen in der Öffentlichkeit. 1995 gaben die italienischen Nachrichtenagenturen eine seltsam anmutende Meldung heraus. Hochrangige Mafiabosse in Sizilien hätten das Küssen verboten, hieß es. Die Mafialeitung wolle so ihre Unterstützer vor Entlarvung schützen. Diese Meldung war besonders pikant, weil zuvor bekannt geworden war, dass es zu einem Treffen zwischen Toto Riina, einem der mächtigsten Mafosi Italiens, und Giulio Andreotti, einem der mächtigsten Politiker Italiens, gekommen war. Wie
Kronzeugen später bestätigten, kam es dabei auch zu einem Kuss zwischen den beiden – einem Kuss, der Journalisten und Staatsanwälte in Italien noch lange Zeit beschäftigte. Über die Interpretation dieses Kusses besteht bis heute keine Klarheit, selbst nachdem der inzwischen gestorbene Andreotti später wegen seiner Zugehörigkeit zur Mafia verurteilt worden war. Wollte der Politiker Andreotti dem Mafoso Riina hier seine Unterstützung versichern?
Oder wollte der Mafoso den Anwesenden zeigen, wer von ihnen wirklich die Macht hat? Vom aktuellen Justizminister Angelino Alfano gibt es ein Bild, auf dem zu sehen ist, wie er den sizilianischen Mafaboss Croce Napoli bei der Hochzeitsfeier von dessen Tochter umarmt. Ein Polizist, der hätte zählen können, wer den Boss wie oft küsst, war nicht zugegen – wohl aber ein Fotograf. Hat er eine Geste der Zuneigung festgehalten oder sagt er mit seiner Umarmung eigentlich etwas ganz anderes? Vielleicht werden wir es eines Tages erfahren.
Leipzig, Mafialand Europa
Ausgerechnet in Leipzig? Ausgerechnet in Leipzig! Leipzig ist eine der Städte, die nach dem Fall der Mauer sofort von der italienischen Organisierten Kriminalität für sich entdeckt worden sind. Umso wichtiger ist es, dass es Vereine wie Eine Welt e.V. gibt,, die immer wieder Antimafia-Aktivitäten fördern. Der Verein gehört auch zu den Veranstaltern dieses Infoabends am 1. Juni 2018, an dem auch ich referieren werde. Es geht dabei um Mafia und Antimafia, in meinem Fall berichte ich, was die ’ndrangheta in Deutschland tut. Weitere ReferentInnen: Gabriele Fantoni von Eine Welt e.v., der über die Geschichte der Mafia in Italien berichtet, und Giulia Norberti von meinem Verein mafianeindanke, die eine Studie über Antimafia-Aktivitäten in Deutschland vorstellt. Der Eintritt ist frei, Spenden sind aber erwünscht.
Warum nur all dieses Desinteresse?
Die wunderbare Kollegin Amalia De Simone aus Italien reist für die italienische Zeitung Corriere della Sera durch Europa, immer auf der Spur der italienischen Mafia. Drei Teile widmet ihre Redaktion der ’ndrangheta in Deutschland, immerhin das wichtigste Land für die Verbrecherorganisation. Dafür hat sie auch meine sehr gut informierte Journalisten-Kollegin Margherita Bettoni interviewt, die tolle Giulia Norberti von meinem Verein mafianeindanke, den ehemaligen Leiter der Anti-OK-Abteilung des LKA Berlin, Bernd Finger, und den italienischen Antimafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri, und auch meine Wenigkeit. Alle Interviewpartner mahnen, dass die italienischen Clans in Deutschland ideale Bedingungen finden und eine Gefahr für unser Land sind. Doch wo ist die deutsche Politik, die für Transparenz im Finanzwesen kämpft? Die die Löcher in der Anti-Geldwäsche-Gesetzgebung schließt? Die sich zum Vorkämpfer gegen Organisierte Kriminalität macht? Die nicht zuschaut, wie tonnenweise Kokain auf den Markt geschwemmt wird, sondern den Dealern die Profite wieder abnimmt? Wo sind die Medien, die das interessiert? Absurderweise wird in Italien mehr über die Mafia in Deutschland berichtet als hierzulande.
Hier die englische Version von Amalia De Simones Feature, Teil 1:
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