SANDRO MATTIOLI

Reporter, Autor und Referent

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Auf der anderen Seite

18. März 2017 von S M

Als der Antimafia-Demonstrationszug im Hafen von Messina endlich in Gang kommt und sich zum Dom emporschiebt, steht ein Junge seltsam unbewegt am Straßenrand. Es ist der 21. März 2016. Schon lange wird an diesem Tag in Italien an die unschuldigen Opfer der Mafia erinnert, doch erst seit diesem Jahr ist er ein offizieller Gedenktag. 30 000 Menschen sind aus dem ganzen Land nach Sizilien gekommen. „Die Mafia ist ein Haufen Scheiße“, schreit eine Gruppe von Schülern mit Plakaten in der Hand. „Raus mit der Mafia aus dem Staat!“, eine andere. Auch der Bürgermeister der Stadt ist irgendwo im Pulk unterwegs und diskutiert mit Bürgern. Wie immer bei öffentlichen Anlässen trägt er ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Free Tibet“. Nonnen laufen mit und Punks, manche gedenken schweigend der Toten.

Der Junge aber, nennen wir ihn Calogero, zeigt keine Regung. Steif steht er auf dem Trottoir, zieht eine Zigarette nach der anderen aus der Schachtel. Wie ein Mann will er rauchen: nur die nötigsten Bewegungen machen, den Rücken durchgedrückt, das Haupt erhoben, die Augen verborgen hinter einer Pilotenbrille. Das Feuerzeug führt er cool zur Zigarette. Er fühlt sich sichtlich unwohl hier, aber das sagt er nicht: Calogero ist wortkarg. Etwas mit Mode will er einmal machen; was genau, behält er für sich. Mit Fremden zu sprechen ist er nicht gewohnt und vermeidet es. Ratsam wäre es ohnehin nicht: nicht, wenn es um private Dinge geht, und privat ist in seinem Heimatort so ziemlich alles. Und erst recht nicht, wenn man derlei Bekanntschaften pflegt, wie er es tut. Einmal schiebt der Junge die Sonnenbrille nach oben. Seine großen dunklen Augen würden Wärme ausstrahlen, wären die Gesichtszüge drum herum nicht eingefroren. Schnell fällt die Brille wieder. Er lächelt nicht, nicht hier.

Über Calogero darf nichts in diesem Text stehen, was ihn erkennbar machen würde. Er ist erst 16 Jahre alt, er hat die Zukunft noch vor sich. Wobei das nicht ganz so sicher ist. Denn Calogero kommt aus einem klassischen Mafia-Ort in Kalabrien; manch 16-Jähriger erlebt dort seinen dreißigsten Geburtstag nicht oder wenn, dann im Gefängnis. Einer der mächtigsten Clans der ’ndrangheta, der kalabrischen Mafia, hat in seiner Heimat das Sagen. Viele im Ort sind mit der Bande im Bund. Auch Calogero. [Weiterlesen…]

Kategorie: Lieblingstexte, Reportagen

Die Gewissheit des Todes

27. Februar 2017 von S M

Die Luft flirrt in der Hitze über der großen Betonfläche vor der Halle, ein Kühllastwagen parkt an ihrem Rand. An seinem Heck leuchtet das Emblem des Roten Kreuzes. Hier sind sie drin. Ab und an bläst der Wind einen Fetzen Gestank herüber, vergleichbar dem von Kuhdung, nur süßer. Es ist der Geruch des Todes. Seit Kurzem werden hinter den Mauern dieser Halle massenweise Leichen gewaschen, geröntgt, begutachtet, die persönlichen Dinge und alles, was die Menschen bei sich trugen, erfasst und dokumentiert. Werden Tätowierungen, Narben und Knochenbrüche gesucht, Gebisse fotografiert und Kleidungsstücke und Schmuck aufgenommen. Gerichtsmediziner aus ganz Italien beteiligen sich an dem Projekt. Kühllastwagen wie dieser bringen die Toten.

Hier, umgeben von Zäunen und Mauern und im Schutz von hochbewaffneten Soldaten, auf einer Nato-Basis an der sizilianischen Ostküste nahe der kleinen Stadt Melilli, hier will Italien Europa aufrütteln. In einer Halle, die erdbraun ist wie die von der Sonne verbrannten Flächen drum herum, erdbraun wie die Verwaltungsgebäude nebenan, erdbraun wie die Tarnuniformen der Soldaten, die hier Dienst tun.

Der Weg zu dieser Halle ist mit Gittern abgegrenzt. Attenzione, area riservata, warnen daran angebrachte Schilder, sich nähern untersagt. In gleich vier Sprachen verbieten sie das Aufnehmen von Fotos. Kaum einmal schimmert das Blau des Meeres irgendwo zwischen den Gebäuden durch.

Es ist der Versuch, systematisch so genannte post-mortem-Daten zu sammeln, also Informationen, die helfen können, diese Toten zu identifizieren. [Weiterlesen…]

Kategorie: Italien, Lieblingstexte, Reportagen Stichworte: Flüchtlinge, gleiche Rechte, identifikation, Italien Sizilien, Migranten, Tote

Liebe deinen Nächsten

27. November 2014 von S M

Die Fischerbar Scordapene in Pozzallo. (c) mauro D'Agati

In Pozzallo auf Sizilien gehen die Einheimischen zu den Beerdigungen der ertrunkenen Flüchtlinge. Der Bürgermeister gibt sogar sein bestes Leintuch, ein Hochzeitsgeschenk,  für die Toten.

Pozzallo, Sizilien, Oktober 2014, Das Magazin

Es sind anstrengende Tage derzeit. Im Rathaus von Pozzallo, einem Städtchen ganz im Süden von Sizilien, stehen die Leute Schlange, denn Luigi Ammatuno, ihr Bürgermeister, wird in der Nacht für zwei Wochen zu den nach New York ausgewanderten Mitbürgern fliegen. Ein Mann lässt im Zorn die Tür knallen; er warte seit drei Stunden, tobt er, seit acht Uhr am Morgen, und noch immer sei er nicht an der Reihe. In der Gemeinde herrscht zudem Streit über den Haushalt, ein dickes Minus steht im Buch. Und die Staatsanwaltschaft ermittelt sowohl gegen den vorhergehenden Bürgermeister wie auch gegen den aktuellen Chef der Stadtpolizei wegen Untreue, Betrug und anderer Delikte. Doch all das ist es nicht, was Virginia Giugno verfolgt. „Ich bin müde“, sagt sie leise, und stützt ihren Kopf mit beiden Händen auf die Lehne eines Stuhls im Sitzungssaal auf. „Ich halte diese Normalität einfach nicht mehr aus.“ [Weiterlesen…]

Kategorie: Artikel, Italien, Lieblingstexte, Reportagen Stichworte: Afrika, Erstaufnahmelager, ertrinken, Fischer, Flüchtlinge, Frontex, Grenze, Holzboot, Katastrophenschutz, Mare, Marine, Massengrab, Meer, Menschenschmuggel, Minderjährige, Mittelmeer, Netze, Nostrum, Nussschale, Palästinenser, Pozzallo, riskant, Schande, Schengen II, schmuggler, Schwimmweste, Sizilien, Syrien, tot, Überfahrt

Mafioso außer Dienst

3. Juni 2013 von S M

Du musst wissen, welcher Knopf der richtige ist. Es ist eine typische italienische Klingelanlage: mattsilberne, runde Knöpfe, auf den Schildern daneben sind Namen eingraviert. «Bonaventura» brauchst du gar nicht erst zu suchen. Doch neben einem Knopf klebt ein handbeschriebener Zettel mit einem anderen Namen, seinem Tarnnamen. Es wirkt, als würde jemand hier nur für ein paar Wochen leben, vorübergehend. Der Zettel hängt jedoch seit Monaten. Diesen Knopf drückst du.

Irgendwo in Süditalien, Juni 2013, Reportagen

Ein Summen, ein kurzes Knattern, die Tür fällt hinter dir krachend ins Schloss, und du bist in einem Hauseingang: auf festem Marmor, die Wände sind ebenfalls marmorgefliest, bis ganz nach oben, die Decke ist freundlich gestrichen. Die Tür zum Aufzug stemmt sich wie jede Aufzugstür zunächst gegen das Aufziehen, dann kommt sie dir mit Schwung entgegen. Du drückst ein weiteres Mal auf einen Knopf, diesmal einen schwarzen, fährst einige Stockwerke nach oben und stehst vor einer Tür, einer normalen italienischen Wohnungstür in einem normalen italienischen Wohnhaus; sie scheint aus Holz zu sein, ist aber aus Metall. Diese hier ist sogar eines jener Modelle, die beim Schließen mehrere Riegel in den massiven Türrahmen treiben, weil in Italien doch so viel gestohlen wird. Vor Schüssen aber schützt sie nicht. [Weiterlesen…]

Kategorie: Italien, Lieblingstexte, Mafia, Reportagen Stichworte: 'ndrangheta, Bande, Camorra, Clan, Cosa Nostra, geheim, Italien, Journalist, Kalabrien, Kronzeuge, Mafia, Mattioli, Mord, Omerta, Pentito, Reportagen, Reporter, Sandro, Sandro Mattioli, Sicherheit, Staatsanwalt, verfolgt

Brutale Stille

12. Dezember 2012 von S M

In dieser Geschichte fehlt viel. Es fehlen Namen, es fehlen Leben, es fehlen Schuldige, und es fehlen Gräber. Vor allem aber fehlt es an einem: an Menschlichkeit. Eine Reise nach Sant’Anna, wo die deutsche Waffen-SS im August 1944 fast ein ganzes Dorf auslöschte.

Sant’Anna, 6. Dezember 2012, Kontext:Wochenzeitung

Auf die kleine Piazza vor der Kirche scheint die Sonne. Das Eis schmilzt unter dem Licht ihrer Strahlen, auch wenn diese im Spätherbst kaum wärmende Kraft haben. Der Blick reicht dank der klaren Luft weit, bis tief ins Tal hinunter fällt er. Erst nach einer Weile spürt man, dass hier die Stille herrscht. Eine unangenehm frostige Stille. Sie ist nicht Ruhe und nicht Entspannung. Sie ist vielmehr verstummte Gespräche, der Mangel jener Geräusche, die das Leben hervorbringt. Es ist menschengemachte Stille, und sie währt in Sant’Anna di Stazzema schon lange: seit damals, seit 1944, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Brutale Stille, wenn man so mag.

Unter dem Eis der Piazza ist Gras zu erkennen. Breite Steinplatten bilden einen Weg zu der Kirche, deren Tür trotz der Kälte weit geöffnet steht. Kerzen leuchten im Inneren. Der Bau ist aus groben Steinen gebaut, im Inneren aber von einiger Eleganz. Dunkle Holzbänke stehen jetzt wieder in ihr. Dort, wo heute das Gras wächst, war vor 68 Jahren kein Halm mehr. [Weiterlesen…]

Kategorie: Artikel, Lieblingstexte, Reportagen Stichworte: August 1944, Auslöschen, Bürgermeister, Deutschland, Geschichte, Hiistoriker, Hitler, Klageerzwingung, Krieg, Kriegsverbrechen, Marzabotto, Massaker, Mörder, NS, Partisan, Pezzino, Pieri, Rechtsnachfolge, Sant'anna, Staatsanwaltschaft, Stazzema, Stuttgart, Sühne, toskana, Verband, Wehrmacht, Wiedergutmachung

Ein Krake, der lacht

16. November 2011 von S M

Der Sozialpädagoge Hartmut Gerger arbeitet im Jugendamt Stuttgart. die Kontext:Wochenzeitung hat ihn mehrere Wochen begleitet. Foto: Jo Röttgers

Stuttgart, 9.11.2011, Kontext: Wochenzeitung

Wie einen Kraken, der Kinder aus Familien reißt und ins Heim steckt, stellen sich viele das Jugendamt vor. Was die Mitarbeiter der städtischen Behörde aber wirklich machen, weiß kaum jemand. Häufig kümmern sie sich um krasse Fälle. Hartmut Gerger unterstützt Eltern, die sich überfordert fühlen. Gerger ist Sozialpädagoge und arbeitet im Stuttgarter Süden; wir haben ihm bei seiner Arbeit über die Schulter geschaut.

Hartmut Gerger lacht gern und viel. So ein Lachen verrät viel über einen Menschen. Es kann offen sein und freundlich und dazu einladen, sich näherzukommen. Es kann scharfe Zähne freilegen, kann verletzen. Es kann aufgesetzt sein, dann blicken die Augen hart, und Fröhlichkeit erstarrt zur Maske. Hartmut Gergers Lachen ist vor allem stark. Selten laut, immer vornehm, und meistens trägt es etwas Mitfühlendes in sich. Nur an diesem Abend lacht Hartmut Gerger nicht. Der Sozialpädagoge, 46 Jahre alt, Mitarbeiter im Stuttgarter Jugendamt, gibt sich der Realität geschlagen. „Nach einem Tag wie diesem möchte ich am liebsten ein Weizenbier trinken gehen“, sagt er.

Gerger sitzt an dem kleinen, runden Tisch in seinem Büro im Stuttgarter Süden. Hierher kommen Menschen, die Rat suchen oder Hilfe brauchen: Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, Mütter, die mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Manchmal haben sie Kinder dabei, die mit der Erziehung ihrer Eltern überfordert sind. Oft ist Gewalt im Spiel. [Weiterlesen…]

Kategorie: Artikel, Lieblingstexte, Reportagen Stichworte: Amt, Behörde, Erziehung, Heim, Jugendamt, Missbrauch, Stuttgart

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Journalismus

Ich arbeite für viele große deutsche, schweizerische und österreichische Medien: für Magazine schreibe ich Reportagen und bin Partner für Recherchen. Als Autor zeichne ich für TV-Beiträge verantwortlich, außerdem übernehme ich Auftragsrecherchen. Auch als Interview-Partner werde ich regelmäßig von deutschen Fernsehsendern und Radiostationen angefragt. Auch im Bereich von Fiction bin ich als Consultant für TV- und Plattformproduktionen aktiv.

Meine Vortragstätigkeit

Als Referent werde ich aufgrund meiner profunden Kenntnisse der italienischen Mafia regelmäßig gebucht – von deutsch-italienischen Vereinen bis hin zu Wirtschaftsverbänden, die ihre Mitglieder für die Gefahren durch die Organisierte Kriminalität sensibilisieren möchten. Ich biete meinen Kunden allgemeine Informationsvorträge, aber auch speziell auf sie zugeschnittene Präsentationen, unterstützt von Film- und Tonaufnahmen aus meinem persönlichen Archiv. Zudem biete ich Politik und Unternehmen Fachberatung an.

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