Als der Antimafia-Demonstrationszug im Hafen von Messina endlich in Gang kommt und sich zum Dom emporschiebt, steht ein Junge seltsam unbewegt am Straßenrand. Es ist der 21. März 2016. Schon lange wird an diesem Tag in Italien an die unschuldigen Opfer der Mafia erinnert, doch erst seit diesem Jahr ist er ein offizieller Gedenktag. 30 000 Menschen sind aus dem ganzen Land nach Sizilien gekommen. „Die Mafia ist ein Haufen Scheiße“, schreit eine Gruppe von Schülern mit Plakaten in der Hand. „Raus mit der Mafia aus dem Staat!“, eine andere. Auch der Bürgermeister der Stadt ist irgendwo im Pulk unterwegs und diskutiert mit Bürgern. Wie immer bei öffentlichen Anlässen trägt er ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Free Tibet“. Nonnen laufen mit und Punks, manche gedenken schweigend der Toten.
Der Junge aber, nennen wir ihn Calogero, zeigt keine Regung. Steif steht er auf dem Trottoir, zieht eine Zigarette nach der anderen aus der Schachtel. Wie ein Mann will er rauchen: nur die nötigsten Bewegungen machen, den Rücken durchgedrückt, das Haupt erhoben, die Augen verborgen hinter einer Pilotenbrille. Das Feuerzeug führt er cool zur Zigarette. Er fühlt sich sichtlich unwohl hier, aber das sagt er nicht: Calogero ist wortkarg. Etwas mit Mode will er einmal machen; was genau, behält er für sich. Mit Fremden zu sprechen ist er nicht gewohnt und vermeidet es. Ratsam wäre es ohnehin nicht: nicht, wenn es um private Dinge geht, und privat ist in seinem Heimatort so ziemlich alles. Und erst recht nicht, wenn man derlei Bekanntschaften pflegt, wie er es tut. Einmal schiebt der Junge die Sonnenbrille nach oben. Seine großen dunklen Augen würden Wärme ausstrahlen, wären die Gesichtszüge drum herum nicht eingefroren. Schnell fällt die Brille wieder. Er lächelt nicht, nicht hier.
Über Calogero darf nichts in diesem Text stehen, was ihn erkennbar machen würde. Er ist erst 16 Jahre alt, er hat die Zukunft noch vor sich. Wobei das nicht ganz so sicher ist. Denn Calogero kommt aus einem klassischen Mafia-Ort in Kalabrien; manch 16-Jähriger erlebt dort seinen dreißigsten Geburtstag nicht oder wenn, dann im Gefängnis. Einer der mächtigsten Clans der ’ndrangheta, der kalabrischen Mafia, hat in seiner Heimat das Sagen. Viele im Ort sind mit der Bande im Bund. Auch Calogero. [Weiterlesen…]