SANDRO MATTIOLI

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Neuartige Mafia-Ermittlungen bieten immer auch neue Ansätze für die Verteidigung

15. November 2018 von S M

Es ist schon ein paar Tage her, dass ich in Konstanz war und über das dort laufende Gerichtsverfahren gegen neun Mitglieder einer Drogenhändlerbande berichtet habe. Wer den Text nachlesen mag, findet ihn hier verlinkt. Der Besuch war hochinteressant: Nicht nur berichtete der Ermittlungsführer über die Arbeit, die ihm 1500 Überstunden eingebrockt hat. Nein, man konnte auch beobachten, wie die Anwälte der Hauptangeklagten nach Einhakpunkten suchen für mögliche Berufungsverfahren.

Wer wann wo in Italien auf Dienstreise war, wollten sie recht detailliert wissen. In dem Ermittlungsverfahren hatten die beiden Staatsanwälte den direkten Austausch unter den Polizistinnen und Polizisten  erlaubt. Die Rechtsanwälte suchen daher nun nach formalen Fehlern, die das Verfahren sprengen könnten. Bisher sind es allerdings nur die vielen Anträge seitens der Verteidiger, die das Verfahren sprengen, zumindest den Zeitplan. Das ist natürlich das gute Recht der Verteidiger, die ja für ihre Mandanten das optimal Ergebnis herausholen sollen. Trotzdem würde ich als Journalist mir natürlich wünschen, dass mehr zur Sache zur Erwähnung kommt im Gerichtsverfahren. Etwa die Frage, was das alles mit Mafia zu tun hat.

Diese Frage schwebt beständig über dem Verfahren. Ich persönlich habe den Eindruck, dass man es bei einem Teil der Angeklagten tatsächlich mit Mafiosi zu tun hat; die italienischen Kontakte sprechen dafür und auch, dass auch unter den Zuschauern schon eindeutige Mafiamitglieder gesichtet worden sind. Andere Angeklagte scheinen mir trotz recht „prominenter“ Nachnamen eher so reingerutscht. Ich jedenfalls bin gespannt, ob diese Frage noch vertieft wird. Bisher hat sie der  Vorsitzende Richter jedenfalls nicht behandeln wollen.

Kategorie: Blog, Italien, Mafia Stichworte: 'ndrangheta, Bande, Drogen, Gastwirt, Kilo, Konstanz, Mafia, Marihuana, Prozess, Schwarzwald, Schwenningen, Tuningen, Villingen

Wollte die Mafia ddp kaufen?

1. August 2018 von S M

Eine Bemerkung vorweg: Die Schriftstellerin Isabelle Lehn hat diese Geschichte über Martina N. und die Deutsche Bank als Vorlage für ihren tollen Roman „Die Spielerin“ genutzt. Wer noch mehr zu Mafia-Aktivitäten und dem Finanzwesen in Deutschland erfahren mag, sei auch auf mein Buch „Germafia“ verwiesen. Auch dort geht es um die Deutsche Bank, und wieder klingt der Stoff wie aus einem Roman… 

Im Jahre 2004 musste die Nachrichtenagentur ddp Insolvenz anmelden, weil sie auf einen Hochstapler hereingefallen war. Ein geheimer Bericht des Bundeskriminalamts BKA legt nahe: Hinter dem vermeintlichen Investor stand die kalabrische Mafia. Den Kontakt stellte eine ddp-Mitarbeiterin her, die ein Doppelleben führte.

Die Kollegen des deutschen Medienunternehmens, bei dem Martina N. arbeitete, hätten kaum vermutet, dass die Frau aus dem Vertrieb einmal als Gangsterin in einem derart teuren Hotel in der Toskana absteigen würde, mit klassisch gehaltenen Suiten mit schweren Kassettendecken und barocken Gemälden an der Wand. N. eine zierliche, im niedersächsischen Einbeck geborene Frau, lebte eigentlich in relativ bescheidenen Verhältnissen – sie betrieb Telefonakquise und arbeitete noch nicht einmal Vollzeit. Auch die Mitarbeiter des feinen Hotels Baglioni in Florenz, von dessen elegantem Dachgarten man direkt auf die Kuppel des Florentiner Doms blickt, ahnten nicht, welchen Gast sie da im Jahr 2009 gerade eincheckten. Nur das elektronische System, das automatisch die Namen der Gäste mit der Kartei polizeilich gesuchter Straftäter abgleicht, wusste sofort Bescheid. Und so standen kurz, nachdem Martina N. eingecheckt hatte, Beamte in der Lobby und nahmen die Deutsche mit – ins Gefängnis. Weil die unscheinbare Frau N. nämlich in Wirklichkeit eng mit einem Mafiaclan zusammenarbeitete und seit Jahren flüchtig war.

Hätte man das Doppeleben der Martina N. in Deutschland gekannt, der Nachrichtenagentur Deutscher Depeschen-Dienst wäre viel erspart geblieben, vor allem die Insolvenz im Jahr 2004 und dass die rund 200 Mitarbeiter monatelang um ihren Arbeitsplatz zittern mussten. Nach heutigem Stand sieht es ganz so aus, als habe die Geschäftsführung damals sich mit der kalabrischen Mafia, der ’ndrangheta, eingelassen – wohl ohne es zu wissen.

Wir erinnern uns: Die in Finanznot geratene ddp war im Jahr 2003 von der Pro 7-Gruppe von Leo Kirch an eine Beteiligungsgesellschaft weiterverkauft worden, die mehrheitlich den beiden ddp-Geschäftsführern Lutz Schumacher und Wilfried Hub gehörte. Die ddp-Manager wollten ihr Unternehmen retten, indem sie neue Geldgeber anwarben. Anfang 2004 scheiterte die Zusammenarbeit mit einem ersten Investor. Der Mann war für nicht seriös gehalten worden; der Verdacht der Geldwäsche stand im Raum.

In der Folge, wenige Monate später, bot ein weiterer Investor, ein deutscher Privatmann an, drei Millionen Euro zu bezahlen. Ein Göttinger Rechtsanwalt sollte das Geschäft über die Bühne bringen. Das Angebot wirkte seriös, notariell beglaubigte Papiere belegten die Finanzkraft des Mannes, Franz T.. Dieser war allerdings als Finanzinvestor ein unbeschriebenes Blatt und in der Medienbranche unbekannt.

Das Magazin Focus hatte damals rekonstruiert, wie der Kontakt zu dem Investoren T. zustande kam. Die Telefonistin N. bekam den Investor T. den Angaben zufolge von einem ehemaligen schweizerischen Banker empfohlen. Über ihren Chef kam der potenzielle Investor T. mit den Geschäftsführern der ddp in Kontakt, Lutz Schumacher und Wilfried Hub.

In den Focus-Texten erscheint Martina N. als eine Nebenfigur. Doch diese Darstellung ist nun anzuzweifeln. Denn bis heute war unbekannt, dass von N. Verbindungen direkt zur kalabrischen Mafia ’ndrangheta führen. Martina N. hatte zuvor nämlich ebenfalls in der Schweiz für eine Bank gearbeitet, für eine Filiale der Deutschen Bank. In ihrer dortigen Funktion hatte sie mit dem mächtigen Morabito-Clan aus Africo kooperiert, einem Ort, der fast an der Spitze des italienischen Stiefels liegt. Im Jahr 2000 war Martina N. von dem Antimafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri in Reggio Calabria angeklagt worden. Sie soll den Mafiosi in Kalabrien in Echtzeit Identifikationsnummern gerade ausgegebener Kredittitel gemeldet haben, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Deutsche Bank in Erfahrung bringen konnte.

Die Gangster nutzten diese Informationen, um die entsprechenden Titel zu klonen, ergo zu fälschen. Fünf Jahre später, im Jahr 2005, wurde N. dafür rechtskräftig zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie war zu diesem Zeitpunkt allerdings flüchtig. Erst im Jahr 2009 erfuhr sie ihre Strafe, nach dem Check-In im Hotel in Florenz.

Klar ist damit auch: Während in Kalabrien ein Prozess gegen die reiche Gangsterin lief, arbeitete sie für eine Tochterfirma der ddp und betrieb Telefonakquise.

Auch im Fall der ddp spielten gefälschte Papiere eine gewichtige Rolle. Denn die Papiere, die T.s Reichtum belegen sollten, waren nicht echt, T. tatsächlich ohne Vermögen. Und auch dass er Teilhaber der Bitburger Brauerei sei, erwies sich als falsche Information.

Es tut sich nun ein ganz neues Szenario auf. Ein geheimer Bericht des BKA, der Kress Pro vorliegt, beschreibt das Wirken der Gruppe um Martina N. genauer. Die gesamte Gruppe – einschließlich N. – bestünde aus Mitgliedern des Morabito-Clans, heißt es in dem Dossier. Der Clan unterhält seit vielen Jahrzehnten Kontakte nach Deutschland und hat dort auch Stützpunkte. Unter anderem wurde in einem Fluss in Kalabrien bereits Ende der Achtziger Jahre Giftmüll aus der Bundesrepublik entsorgt.

Die angebliche einfache Telefonistin N. erscheint in diesem Bericht wie auch in italienischen Unterlagen in einem ganz anderen Licht: Jahrelang habe N. mit zwei weiteren Mitgliedern der Bande in Hotels gelebt. Sie war offenbar nicht für einfache kriminelle Delikte zuständig, sondern für komplexe und kompliziertere Gaunereien: Das BKA bezeichnet sie als „Organisatorin für das Abfließen von investierten Geldern aus Weltbankprogrammen, z.B. das Errichten von Blutbanken in der ehem. Sowjetunion oder von Rehakliniken in Hongkong“. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Mafiaclans nur Schutzgelderpressung und Drogenhandel für sich betreiben. Schon jeher betätigen sie sich auch in Bereichen, um ihren Reichtum zu mehren, in denen man als unbedarfter Bürger die Mafia nicht vermuten würde.

So kennen sich die Clans auch mit komplizierten Finanzoperationen aus. Vor allem Anfang der Neunziger Jahre war der Handel mit gefälschten Wertpapieren sehr lukrativ. Zum Teil dienten dann echte Papiere auch als Währung und Sicherheiten für kriminelle Geschäfte mit anderen Organisationen. Die gefälschten Titel wurden immer wieder bei Geldinstituten, die die Fälschungen nicht durchschauten, beliehen – zum Schaden der Banken.

Weiterhin sei damals bekannt geworden, heißt es in dem BKA-Bericht, dass deutsche Rechtsanwälte sich an den Betrügereien beteiligt haben sollen. Über den Verfahrensausgang hierzu war dem BKA damals aber nichts bekannt, ebenso wie der aktuelle Aufenthaltsort der Martina N. Auch die Polizei in Amsterdam ermittele gegen die Gruppe wegen des Scheckbetrugs in Millionenhöhe.

Martina N. ist für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Aus dem Umfeld ihrer Familie heißt es, die Mutter habe keinen Kontakt mehr zu ihr. Das BKA gibt zu personenbezogenen Anfragen grundsätzlich keine Auskunft. Auch interne Dokumente wie den als geheim eingestuften Bericht kommentiert die Behörde nicht.

Einer der damaligen Geschäftsführer der ddp, Wilfried Hub, erinnert sich nicht sofort an Martina N., als wir ihn in einem Telefonat auf die Geschichte ansprechen. Hub, heute Herausgeber des Vogtland-Anzeigers, sagt, eine wichtige Person sei damals ein Rechtsanwalt in Göttingen gewesen. Dieser habe mit den ddp-Geschäftsführern Kontakt gehalten und sei zugleich das Bindeglied zu Franz T. gewesen. Der Rechtsanwalt habe ihn und seinen Kollegen Schumacher immer wieder vertröstet, als die Zahlung ausblieb.

Hub meint, vielleicht hätte ihnen damals früher auffallen müssen, dass T. nicht seriös sei, zumal dessen Rechtsanwalt ihnen Dinge erzählte, die man eigentlich nicht weitersage. Ob der Göttinger Anwalt zu den im BKA-Bericht erwähnten Rechtsanwälten gehört, mit denen die Bande kooperierte, lässt sich heute nicht mehr klären.

Als der Anwalt schließlich anbot, die Drei-Millionen-Investition in Form von Gold-Barren vorbeizubringen, dämmerte es den beiden ddp-Geschäftsführern. Sie schickten einen Kollegen aus der Region am Wohnsitz des mutmaßlichen Investoren T. vorbei. Der Mann, der behauptete, Miteigentümer der Bitburger Brauerei zu sein, lebte in Wahrheit in ärmlichen Verhältnissen mit seiner Mutter auf einem Bauernhof. Als erstunken und erlogen erwies sich auch sein Reichtum: Einem Notar wurde das Dokument vorgelegt, das er angeblich für T. beglaubigt haben sollte und das dessen Vermögen belegt. Es stellte sich heraus: es war gefälscht. Ein Bankdokument einer Luxemburger Bank: ebenso gefälscht.

Martina N. habe zu dem Investor T. damals engen Kontakt gehabt, sagt Winfried Hub heute. Dass die Mafia involviert gewesen sein soll, darauf habe es überhaupt keine Hinweise gegeben, erklärt er. Auch was deren Interesse gewesen sein soll, wo doch nie Geld geflossen ist, ist ihm unklar. Aus diesem Grund war bis zum Auftauchen der BKA-Akten die Erklärung, die Hub damals gefunden hatte, viel einleuchtender: nämlich dass sie und sein ddp-Geschäftspartner Schumacher auf einen „Spinner reingefallen waren“.

Inzwischen sieht es so aus, als sei dieser „Spinner“ von der deutsch-italienischen Gangsterbande für ihre Zwecke eingespannt worden. Angesichts der Fahndungsakte von Martina N. liegt diese Sicht jedenfalls nahe. Nur was das Ganze bezwecken sollte, das ist auch heute noch fraglich. Zwar gibt es Beispiele dafür, dass Gruppen der Organisierten Kriminalität damals in Medienunternehmen investierten. Nur flossen in diesen Fällen tatsächlich erhebliche Geldmengen. Im Fall der ddp blieb es jedoch bei leeren Worten – sehr zum Nachteil der Mitarbeiter, die wie ihre Chefs Hub und Schumacher zuschauen mussten, wie ihre Agentur in die Insolvenz rutschte.

Kategorie: Mafia Stichworte: 'ndrangheta, ddp, Deutsche Bank, deutsche Mafia, festnahme, Insolvenz, Investor, Medien, Medienhaus, Nachrichtenagentur, Reggio Calabria

Das starke Geschlecht – Frauen in der Mafia

14. Juli 2018 von S M

Frauen sind schwach.
„Selbst die Frauen, die mit einem Mafioso verheiratet sind oder aus einer Mafiafamilie stammen, halten sich nicht mehr an das Schweigegelübde, werden sie erst einmal von höchsten Gefühlen erfasst“, sagt Antonio Calderone, einst ein Mafiaboss in Catania.
Frauen sind geschwätzig.
„Ich habe meiner Frau klar gemacht, dass sie mich nichts über meine Arbeit fragen darf“, sagt Antonio Saia, einst ein Mitglied des Clans der Catanesi. „Ich wollte sie als Frau nicht in meine Sachen einbeziehen. Wissen Sie, sie redet dann mit Freundinnen, und seinen Freundinnen vertraut man sich dann doch mal an.“
Frauen sind vor allem Mütter.
Und sie gehen in die Kirche, die Mafiosi wichtig ist.

So verkaufte das die Mafia und so wurde das auch geglaubt.

So mag es früher auch gewesen sein. Doch die Zeiten ändern sich, selbst im Männerland Italien, und die Emanzipation macht selbst vor der organisierten Kriminalität nicht halt. Welches Geschlecht wirklich schwach ist, da hat I.M.D. keine Zweifel. I.M.D. arbeitet seit mehr als zehn Jahren in einer Sondereinheit der Polizei von Palermo, die in Sizilien Jagd auf ranghohe Mafiosi macht – und dabei auch erfolgreich ist. Die Jäger von der „Catturandi“ haben Bernardo Provenzano festgenommen, Capo der Cosa Nostra auf Sizilien und einer der meistgesuchten Mafiosi Italiens, dazu Salvatore Lo Piccolo und seinen Sohn Sandro, zwei weitere kriminelle Schwergewichte, der eine ein Mörder, der andere ein Drogenhändler. I.M.D. war an beiden Operationen beteiligt und gibt aus Angst um sein Leben seinen Namen nicht preis. „Während all der Zeit, die ich jetzt als Jäger flüchtiger Mafiosi aktiv bin, ist es kein einziges Mal passiert, dass einer der Bosse keinen Kontakt mit den eigenen Frauen hatte, den Müttern, Schwestern, Frauen, Liebhaberinnen und Töchtern“, berichtet er.

Manchmal helfen die Liebeleien den Ermittlern, sie werden zur Spur, die zum Erfolg führt, berichtet I.M.D.: „Vito Vitale, Pino Guastella und andere haben wir dank ihren Freundinnen und Liebhaberinnen gefunden – obwohl die Frauen natürlich komplett in die Maßnahmen eingebunden waren, die ihre Partner vor ihrer Entdeckung schützen sollten.“ Neun Jahre lang war I.M.D.s Einheit etwa Bernardo Provenzano auf den Fersen, kreiste seine Aufenthaltorte immer weiter ein. Provenzano ließ seiner Geliebten Saveria Benedetta Palazzolo regelmäßig zärtliche Botschaften zukommen. Später heiratete er sie – wohlgemerkt, während er im Untergrund lebte! Ein katholischer Priester gab seinen Segen dazu, das Einwohnermeldeamt natürlich nicht, weshalb die Hochzeit nicht rechtskräftig ist. Palazzolo, die heute noch flüchtig ist, verwaltet seit der Festnahme vor drei Jahren dessen Reichtum. Frauen sind also in der Mafia keineswegs unbedeutend, so gering ist ihre Rolle heute nicht. Das von den mafiösen Organisationen aufgebaute Bild der schwachen Frau hat noch nie ganz gestimmt.

Sicher ist, dass die Familie die Keimzelle der Kriminalität ist. Hier werden die Werte vermittelt, hier werden Heiraten schon in Kinderjahren beschlossen, hier wird die Macht über einen Clan weitergegeben. Wie bei normalen italienischen Familien ist auch bei Mafiafamilien die Mamma der Mittelpunkt. Wie wichtig die Rolle der Mutter ist, zeigt sich auch darin, dass die Cosa Nostra sich gerne  Begriffen aus der Familienwelt bedient: „Mamma“ bezeichnet die Organisation als Ganzes, die einzelnen Clans werden auch „Familien“ genannt.

Doch es gab schon früher Frauen, die mehr als eine Mafia-Mamma waren. Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, im Jahr 1904, gab es in Palermo einen Gerichtsprozess, in dem sich mehrere Frauen sich für ihre Taten verantworten mussten. Die Richter damals stellten fest, dass die Angeklagten keineswegs nur unterstützend tätig waren, sondern sich selbst „an den kriminellen Aktivitäten der Mafia-Gruppe beteiligt hatten“.

An sich ist die Situation eindeutig: Es gibt einen klaren Aufnahmeritus für Mitglieder der Clans. Archaisch geht es dabei zu, eine ewige Blutsbrüderschaft wird mit einem Tropfen Blut begründet, ein Heiligenbildchen wird in der Hand des Aufzunehmenden angezündet, er wird es bis ans Ende seiner Tage bei sich tragen. Nur Männer werden Teil der Mafia, Frauen bleiben ausgeschlossen. Macht können sie trotzdem erlangen. Boss dürfen Frauen zwar formal nicht werden, zumindest nicht bei der Cosa Nostra auf Sizilien und der Sacra Corona Unita aus Apulien. Doch selbst das hielt einige Frauen nicht davon ab, dort die Macht zu erlangen.

Es gibt das Beispiel von Angela Russa, der sogenannten Heroin-Oma der sizilianischen Cosa Nostra. Sie baute einen mächtigen Familienbetrieb auf und handelte mit Drogen. Die Ware ließ sie vom italienischen Festland anliefern. „Ich habe keine Päckchen vom einen Teil Italiens zum anderen getragen“, sagt sie. Von ihrer Wohnung

„Ich habe von Beginn an kommandiert.“ Im Jahr 1982 hatte es sich auskommandiert. Russa wurde festgenommen, im stolzen Alter von 74 Jahren.

Mit vielen Morden hatte sich der Antonino Cintorino, ebenfalls ein Angehöriger der Cosa Nostra, einen Namen gemacht. Er befehligte den Clan in Calatabiano, der in Taormina und Umgebung aktiv war. 1993 verhaftete die Polizei quasi die gesamte Führungsriege, doch der Clan machte weiter, als sei nichts passiert. Als die Ermittler die Telefone von Cintorinos Frau Maria Filippa Messina abhörten, wussten sie warum: Sie hatte die Geschäfte übernommen. Messina besorgte Waffen und engagierte Killer, um einen rivalisierenden Clan zu eliminieren. Dann griffen die Ermittler zu, zwei Jahre nachdem sie die Macht an sich genommen hatte, landete auch sie im Gefängnis. 13 Jahre und vier Monate lautete das Urteil. Das wirklich Besondere daran war aber, dass zum ersten Mal überhaupt eine Frau zum „carcere duro“ verurteilt wurde, eine besondere Art der Isolationshaft für Mafia-Angehörige.

Lange waren die Mafia-Organisationen wie eine Black Box, von außen zu sehen waren nur die oft blutigen Taten. Mitte der Achtziger Jahre kam aber etwas Licht in das Innenleben der Mafia. Den Fahndern gelang es, den Druck auf die Organisation zu erhöhen, vor allem in Sizilien. Immer mehr Mafia-Angehörige beschlossen, sich gegen die Organisation zu stellen und mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Die 1991 geschaffene Kronzeugenregelung förderte diesen Prozess weiter.

Schließlich beschäftigten sich einige Forscherinnen mit der Thematik. „Ich habe mich in den Achtziger Jahren mit den Frauen im Süden befasst, so kam ich auch zum Thema ‚Frauen und die Mafia’“, sagt die Soziologin Renate Siebert. Sie ist eine gebürtige Deutsche, lebt aber seit fast vierzig Jahren in Italien und lehrt an der Universität della Calabria. „Ich habe mich damals nur auf Sekundärmaterialien gestützt, habe keine empirische Studie gemacht. Aber meine 1994 erschienene Arbeit war die erste, die das Thema so umfassend analysiert hat.“

„Wir bekamen damals Einblick in die Familien, die ja eher eine verschlossene Welt sind“, berichtet die Soziologin. Sie konnte damals die Aussagen von verhafteten Mafia-Chefs analysieren. „Es gab Fälle, in denen einige Mitglieder einer Familie mit der Justiz zusammenarbeiteten, andere weiterhin in der Mafia blieben, und Frauen waren zwischen beiden Polen hin- und hergerissen.“

Besonders dramatisch verlief aus diesem Grund das Leben von Vincenzina Marchese, die Tochter eines Mafioso war und dazu Frau des Bosses Leoluca Bagarella. Ihr Bruder Pino entschied sich dafür, als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft zu dienen. Vincenzina Marchese war selbst in kriminelle Aktivitäten involviert. Kurz vor ihrem Selbstmord war sie besessen von der Angst, überraschend von der Polizei gefasst zu werden.

Früher wurden Frauen oft nicht für ihre Taten verurteilt, da sie ja – gemäß dem von der Mafia selbst verbreiteten Bild – zu schwach seien, um an kriminellen Aktivitäten teilzunehmen. Staatsanwälte übernahmen dieses Bild und bewahrten es zudem – zu lange. Denn was in den Neunzigern aus der Not heraus startete, nämlich der Not, dass viele Männer inhaftiert wurden, hat sich zu einem Gutteil zur Normalität entwickelt: Heute sind Frauen im Dienst der Mafia keine Einzelfälle mehr, einem Bericht zufolge sind sie oft voll in das kriminellen Tun eingebunden. Häufig verwalten sie die Finanzen und schließen Geschäfte ab. Lediglich bei Delikten mit Waffen ist ihre Beteiligung auffällig geringer.

Der Oberste Gerichtshof in Italien sah sich vor diesem Hintergrund im Jahr 1999 genötigt, eine neue Sicht auf Mafiafrauen anzumahnen: „Dem Untersuchungsrichter ist die Aufgabe anvertraut, die innerfamiliäre Zusammenarbeit der Angeklagten zu bewerten und festzustellen, ob diese Ausdruck einer Mitgliedschaft in der kriminellen Vereinigung ist und den Zielen dieser dient“, steht in einem Urteil geschrieben. Die Untersuchungsrichter sollen sich bei ihrer Arbeit an die konkreten Fakten halten – und nicht an überlieferte Vorstellungen.

Damit dürften auch die letzten Richter im Land verstanden haben, dass es das Heimchen am Mafiaherd so kaum mehr gibt. Die Zahlen von Verurteilungen sprechen eine deutliche Sprache: 1990 war nur eine Frau wegen des Mafiaparagraphen 416 bis verurteilt worden, zwei Jahre später später waren es schon zehn, 1994 gar 16 Frauen. Diese Zahl stieg weiter stark an: 1995 auf 89 verurteilte Frauen, und im Jahr 2000 waren es dann allein in Sizilien 43 Frauen. Diese Zuwachsraten übertreffen die der Männer bei Weitem.

Wie wichtig die Frauen der Bosse sind, bekommen Staatsanwälte immer wieder vor Augen geführt, wenn sie mit Gefangenen über die Kronzeugenregelung verhandeln. Die Mafiosi auf dem Stuhl vor ihnen wollen die Entscheidung meist erst mit ihrer Frau besprechen. So sagte der Mafia-Boss Antonio Calderone zu den Ermittlern: „Ich rede erst, wenn meine Frau da ist. Ich möchte vor ihr sprechen und ihr wie Ihnen etwas sagen, die ihr Männer des Gesetzes seid.“ Das Problem war nur: Seine Frau kam nicht.

Am Morgen um Acht hatten sich die Ermittler und der Boss in Rom getroffen. Calderone schwieg. Die Ermittler warteten. Zwölf Stunden später traf seine Frau dann endlich ein. Die Ermittler mussten Calderone versichern, sich um ihr Wohlergehen und das seiner drei Kinder zu kümmern. Dann redete Calderone. Und redete. Und redete.
Am Ende standen 160 Haftbefehle.

Kategorie: Artikel, Mafia Stichworte: 'ndrangheta, Entscheiderinnen, Frauen, Gender, I.M.D:, Mafia, Rolle

Geküsst und verraten?

13. Juni 2018 von S M

Ich erinnere mich noch, wie irritiert ich war nach unserem ersten Treffen. Es kommt in meinem Beruf als Reporter zwar immer wieder vor, dass man dem Bösen begegnet, zumal wenn man wie ich regelmäßig über die Mafia berichtet. Dieses Mal aber hatte ich einen leibhaftigen Mörder vor mir, einen Mann, der mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Einige Widersacher hatte
er selbst erschossen, andere erschießen lassen. Doch dieser Mann war mir sympathisch, sehr sogar, und das machte dieses Treffen erst wirklich eigenartig. Ich hatte geradezu Mitleid mit ihm, denn er hatte sein altes Leben als Mafoso aufgegeben, sein neues Leben als Kronzeuge aber glich einer Misere.


Ein Freund und Kollege aus Italien hatte mich kontaktiert, ein Kronzeuge der ’ndrangheta, also der kalabrischen Mafa, packe aus und rede auch über Deutschland; ich solle schnell kommen. So stand ich also Luigi Bonaventura gegenüber: Etwa so alt wie ich, etwas kleiner, weiche Gesichtszüge und mit einer völlig anderen Lebenserfahrung.


Als Kind schon hatte er schießen gelernt, beherrschte Maschinengewehre und Pistolen, früh beging er den ersten Mord, eine Prüfung. Schließlich war er Chef des mächtigsten ’ndrangheta­-Clans in Crotone geworden, einem der Hotspots der ’ndrangheta ganz im Süden von Kalabrien. Bonaventura hatte Blut gesehen und die Hirnmasse eines Kontrahenten von seinem Lederschuh gewischt. Ich war ein Reporter, stammte aus einer soliden Mittelklassefamilie in einem schwäbischen Dorf und tötete aus Tierliebe keine Mücken. Wir hätten gegensätzlicher nicht sein können.
Wir trafen uns mehrmals zu Gesprächen, nicht nur über die Mafa, sondern über alles Mögliche. Irgendwann begrüßten wir uns, wie in Italien üblich, mit Wangenküsschen. Hatte Bonaventura so vielleicht auch einmal einen Menschen dem Tode geweiht?

„In der Theorie“, sagt der Ex-­Mafioso, „müsste es auch den Todeskuss geben.“ Ist der Kuss eines Bosses, der den zu Tötenden markiert, also nicht nur eine fixe Idee von Spielfilmfabriken und Schriftstellerhirnen? Er selber habe jedoch noch nie dem Ritual eines Todeskusses beigewohnt oder gar einen solchen gegeben, berichtet Bonaventura.
Acht Jahre war er der Boss des mächtigsten Clans in Crotone gewesen, dann wurde er Kronzeuge. Bonaventura hatte eingesehen, dass er seine Familie ins Verderben reißen würde, mit all den Mafiamorden und den Kriegen zwischen den Clans. Dass seine Kinder nie frei sein würden und womöglich ohne ihren Vater aufwachsen müssten. Also stieg er aus. Seitdem hilft er vielen
Staatsanwaltschaften bei Ermittlungen, auch jetzt noch, da Italien ihn nicht mehr schützt; der Staat hat seinen Kronzeugenvertrag nicht verlängert. Nun, da es sein Land nicht mehr tut, muss Bonaventura seine Familie selbst in Sicherheit bringen.

Die Mafia hat sich längst vom archaischen Männerbund gewandelt zu global agierenden, bestens vernetzten Einheiten, sie ist teils in der Wirtschaft aktiv, teils politisch oder auch militärisch. Die Mafa tritt heute auch in Form smarter Investmentbanker und hochproftabler Makler von erneuerbaren Energien auf, ist bestens ausgebildet und perfekt in das Wirtschaftsleben integriert. Ihre archaischen Rituale aber haben jede Wandlung überdauert. 

Die Mafia­Organisationen haben sich seit ihrem Entstehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen rituellen Überbau aus unterschiedlichen kulturellen Sphären angeeignet. Es gibt ritualisierte Fechtkämpfe, wie man sie von deutschen Männerbünden kennt, Sitzungen, die einem Standardprotokoll folgen, das jedem Geheimorden zur Ehre gereichen würde. Und natürlich haben die Gruppen sich zahlreiche Praktiken einverleibt, die sie zuvor aus ihrem religiösen Kontext gelöst haben – die „Taufe“ ist eines der prominentesten Beispiele.


Auch der Kuss hat eine lange Tradition in der Mafia. Der einzelne Kuss auf die Wange dient als Begrü­ßungsgeste, und auch in den Zeremonien der Verbrecherbanden tauschen die harten Männer vermeintlich Zärtlichkeiten aus. Auch Bonaventura hat bei seiner „Taufe“, der Aufnahme in die ’ndrangheta, die Anwesenden geküsst, wie es die alten Regeln vorschreiben. Zunächst sprach der Capotavola, der Leiter der Zeremonie, die üblichen rituellen Worte. Dann gab er einen Tropfen Blut auf ein Heiligenbildchen, um den neuen Bund zu bestätigen, legte dieses Bild in Bonaventuras Hand und zündete es an. Zum Abschluss gab Bonaventura allen vier Anwesenden, den zwei rechts und links des Capotavola Sitzenden, je zwei Küsse auf die Wangen. Dem Capotavola
dagegen bezeugte er mit einem einzigen Kuss seine Ehrerbietung.


Ein besonders perfides Beispiel eines archaischen Rituals ist der Todeskuss, der böse Kuss. Allerdings scheint dieser Kuss eher Phantom und Ausgeburt der Fantasie denn Realität zu sein: Bei näherer Betrachtung findet sich kein Beleg für einen tatsächlich erfolgten Todeskuss in der Mafia. Wohingegen die Manifestationen in Film und Literatur wie etwa in
Der Pate Legion sind. Die
Variation eines Todeskusses sah man in der Geschichte der Ermordung von Nicola Lo Faro, einem 45­jährigen Anführer eines Clans in Catania, der ohne Rücksprache mit den Mächtigen im Clan ein Mitglied seiner Gruppe hatte töten lassen.

Polizisten hatten Lo Faro observiert und dabei gefilmt, wie er durch einen anderen Mafioso im Beisein von Kollegen umarmt wurde. Eine Woche später filmte eine Überwachungskamera den Mord an Lo Faro. Die Polizei konnte schnell ermitteln, was geschehen war und wer die Täter waren, auch wenn diese sich vermummt hatten: Die Umarmung hatte Lo Faro als zu Tötenden „markiert“, wie ein Gericht später feststellte. Es handelte sich in diesem Fall jedoch nicht um einen Kuss und schon gar nicht einen Kuss auf den Mund, wie der Mafiakuss literarisch
oft beschrieben wird.
Immerhin eine Todesdrohung lag im Kuss eines Mitglieds der Camorra: Der Mann hatte einen Gefolgsmann vor der Quästur in Neapel, inmitten einer Menschenmenge, auf den Mund geküsst. Um Liebe ging es dabei zweifellos nicht. „Halte die Lippen geschlossen, fange ja nicht an zu reden“, sollte dieser Kuss heißen, „sonst …“


Man könnte meinen, es stelle eine Perversion dar, wenn der Kuss, Geste der Zuneigung und Zärtlichkeit, als Todesdrohung benutzt wird. Aber so ist es nicht. Man irrt aufgrund einer allzu eingeengten Perspektive auf den Kuss. Die Geste trug in der Vergangenheit eine Vielzahl von Bedeutungen in sich; inzwischen sind die meisten von ihnen
unter anderen Bedeutungsschichten verschüttet worden.


Heute bezeugen wir einander unsere Zuneigung mit Begrüßungsküsschen auf die Wange, Liebe mit einem innigen Kuss auf die Lippen und Begierde mit sexuell aufgeladenen Küssen. Vielleicht mag man in der Kirche noch von einem Kuss als Besiegelung eines Vertrages sprechen, wenn sich die Lippen zweier frisch Vermählter im Anschluss an die Trauung berühren. Alle weiteren Funktionen des Kusses sind abwer aus der Alltagskultur nahezu verschwunden.


Wissenschaftler, die das Küssen studieren, kennen weit mehr Deutungen. Richard Hawley, Gräzist an der
University of London, hat einen vielbeachteten Aufsatz über das Kussverhalten in der Antike geschrieben. Seine Studien zeigen, dass der Kuss zahlreiche Funktionen hatte, und deshalb auch eine Vielzahl von Bezeichnungen. Bei Alexander dem Großen etwa zeigte man mit ihm die Bereitschaft zu Unterwerfung und Gehorsam. Derartige Küsse fanden auch ihren Weg nach Rom, Tibull beschreibt den Kuss später als Siegeszeichen für eine Eroberung. Ebenfalls in Rom diente das Küssen auch der Besiegelung von Verträgen, wie dies heute ein Handschlag tut.


Das Küssen, so könnte man Hawley zusammenfassen, war in der Antike weit weniger erotisch konnotiert als heute. Hawley verweist auf ein weiteres Beispiel: Eine Tochter küsst ihren heimkehrenden Vater – es ist ein eifriger Zungenkuss. Keine fragwürdige Tochter­Vater­Beziehung, sondern das Mädchen versuchte sich vielmehr ein paar Münzen aus dem Mund ihres Vaters zu angeln. Dieser behielt den Lohn für seine Arbeit auf dem Nachhauseweg oft im Mund – der Nachteil einer Toga ist, dass richtige Taschen fehlen.


Küsse erfolgten in der Antike zumindest in der Öffentlichkeit eher als Ausdruck von Wertschätzung zwischen Männern denn als Austausch von Zärtlichkeit zwischen Mann und Frau. Und auch zuhause wurde nicht nur aus Liebe geknutscht: Es ist beschrieben, dass Römer mit Küssen kontrollierten, ob ihre Frauen Wein getrunken hatten, was ihnen laut Hawley in Rom verboten war.
Erstaunlicherweise war es das Christentum, das in besonderem Maß den Kuss als reines Zeichen der Liebe proklamierte. Der Todeskuss der Mafa hat allerdings hier auch seinen prominentesten Urahnen im Kuss des Jüngers Judas, der Jesus mit dieser nur dem Anschein nach zärtlichen Geste an seine Verfolger verriet.
Manche dieser antiken Formen des Küssens finden wir heute im Aufnahmeritual der Mafiaorganisationen wieder. Luigi Bonaventura hat, wie eingangs beschrieben, bei seiner „Taufe“ mit seinem Kuss des Capotavola, des Menschen an der Stirnseite des Tisches, nicht nur seinen „Vertrag“ mit der ’ndrangheta besiegelt. Er hat mit dem einzelnen Kuss auf die Wange des Vorsitzenden der Zeremonie eine Hierarchie bekräftigt und sich ihr zugleich untergeordnet. Denn der Vorsitzende leitet die Zeremonie als Vertreter des Capo Sociatà, also des obersten Anführers der jeweiligen ’ndrangheta­-Gruppe.


Der einzelne Kuss diente und dient heute noch als Zeichen der Ehrerweisung. Sieht man in Palermo zum Beispiel Männer sich mit einem einzelnen Wangenkuss begrü­ßen, kann man davon ausgehen, Leute vor sich zu haben, die zumindest keine große Distanz zu Mafiaorganisationen haben. Dieses Erkennungszeichen hat der Mafia aber auch des Öfteren schon Probleme mit der Polizei eingebracht. So zählte beispielsweise die New Yorker Polizei bei der Beerdigung des Paten John Gotti von der Familie Gambino, wer wen wie oft küsste. Es war damals unklar,
wer die Macht in der Familie übernehmen würde, und das Küssezählen hatte sich zuvor schon in ähnlichen Fällen bewährt. Denn auch Gotti selbst hatte die Polizei auf diese Weise als neuen Anführer ermittelt.


Überhaupt tut sich die Mafa inzwischen schwer mit dem Küssen in der Öffentlichkeit. 1995 gaben die italienischen Nachrichtenagenturen eine seltsam anmutende Meldung heraus. Hochrangige Mafiabosse in Sizilien hätten das Küssen verboten, hieß es. Die Mafialeitung wolle so ihre Unterstützer vor Entlarvung schützen. Diese Meldung war besonders pikant, weil zuvor bekannt geworden war, dass es zu einem Treffen zwischen Toto Riina, einem der mächtigsten Mafosi Italiens, und Giulio Andreotti, einem der mächtigsten Politiker Italiens, gekommen war. Wie
Kronzeugen später bestätigten, kam es dabei auch zu einem Kuss zwischen den beiden – einem Kuss, der Journalisten und Staatsanwälte in Italien noch lange Zeit beschäftigte. Über die Interpretation dieses Kusses besteht bis heute keine Klarheit, selbst nachdem der inzwischen gestorbene Andreotti später wegen seiner Zugehörigkeit zur Mafia verurteilt worden war. Wollte der Politiker Andreotti dem Mafoso Riina hier seine Unterstützung versichern?


Oder wollte der Mafoso den Anwesenden zeigen, wer von ihnen wirklich die Macht hat? Vom aktuellen Justizminister Angelino Alfano gibt es ein Bild, auf dem zu sehen ist, wie er den sizilianischen Mafaboss Croce Napoli bei der Hochzeitsfeier von dessen Tochter umarmt. Ein Polizist, der hätte zählen können, wer den Boss wie oft küsst, war nicht zugegen – wohl aber ein Fotograf. Hat er eine Geste der Zuneigung festgehalten oder sagt er mit seiner Umarmung eigentlich etwas ganz anderes? Vielleicht werden wir es eines Tages erfahren.

Kategorie: Mafia Stichworte: 'ndrangheta, Bruderkuss, Judas, Kuss, Mafia, Symbl, verrat

Kalabrische Verhältnisse in der deutschen Provinz

28. März 2018 von S M

Als in der Nacht vom 8. zum 9. Januar die Türen in Hessen und Baden-Württemberg den Rammböcken der Polizei nachgaben und krachend splitterten, als elf mutmaßliche Mafiosi aus dem Schlaf gerissen wurden, als zeitgleich Mario L. in Kalabrien verstand, warum er in eine Straßenkontrolle geraten war und so lange auf dem Polizeirevier festgehalten wurde, ohne zu erfahren warum, als die Polizei 159 weitere Mafia-Verdächtige eingesammelt und festgenommen hatte, da nahm eine Großoperation ihren Lauf, der ein erwartbares Schicksal beschieden sein dürfte.

Zunächst finden solche Massenfestnahmen große Resonanz in den Medien. Alle sprechen vom wichtigsten Schlag gegen die ’ndrangheta seit XX Jahren und man glaubt, völlig unerwartet, schlagartig, überraschend sei die Mafia in Deutschland entdeckt worden. Natürlich findet sich auch die übliche Berichterstattung, die bar jeden Hintergrundwissens Dinge in die Welt hinausposaunt und nicht zwischen Clans und Organisation unterscheiden kann. Geschenkt. Es werden dann die üblichen Fragen gestellt: Was macht die Mafia in Deutschland? Wo sind die Mafiosi in Deutschland ansässig? Ist das gefährlich? Was bedeutet dieser Schlag?

Es sind wichtige Fragen, zweifelsohne. Aber es ist leider nur ein kleiner Teil der Fragen, die beantwortet werden müssten. Und es sind Fragen, die zeigen, wie wenig nachhaltig das Vorgehen gegen die Mafia außerhalb Italiens und damit auch in Deutschland ist.

Normalerweise hält diese Beachtung eine, vielleicht zwei Wochen an, dann versinkt das Thema Mafia wieder in der Nichtbeachtung. Ohne, dass Strukturen ausgeleuchtet würden. Ohne, dass Namen genannt würden. Ohne, dass langfristig die deutsche Politik- und Wirtschaftsordnung gefährdende Schwächen im Strafverfolgungsregime in der Bundesrepublik benannt würden. Ohne, dass vorhandene Verflechtungen zwischen Mafia und Politik oder zwischen Mafia und Wirtschaft dargestellt würden. Dann geht alles weiter wie zuvor. Bis zum nächsten „Schlag gegen die Mafia“.

Insofern ist jede Maxi-Operation immer auch etwas frustrierend für Journalisten wie mich, die sich mit dem Thema seit Langem befassen: man hofft immer, dass Deutschland nun doch erwachen möge, doch man hofft vergebens. Deutschland verfällt immer und immer wieder in den Dämmer und die Mafia kann weiter munter hierzulande investieren. Zugleich wird ein Gutteil der Festgenommenen wieder freigelassen, weil man ihnen doch nichts nachweisen kann oder weil die deutsche Justiz den Italienern einen Strich durch die Rechnung macht. Oder oder oder. Justizinstitutionen können extrem widerspenstig sein, wenn es um die deutsch-italienische Kooperation geht.

(Wie sehr das Thema Mafia unterschätzt wird, zeigt sich übrigens auch in dem unwürdigen Angebot einer großen überregionalen Zeitung, die eine Exklusivgeschichte von mir unter Bedingungen annehmen wollte: der Name des lokalen Korrespondenten müsse ebenfalls über der Geschichte stehen und man bezahle 250 Euro. Thema der Recherche: wie eine deutsche Staatsanwaltschaft systematisch Mafia-Ermittlungen hintertreibt und Ermittlungen unterlässt, obwohl ein gravierender Vorwurf gegen einen mutmaßlichen Mafioso, basierend auf einer qualifizierten Quelle, im Raum stand. Klar, dass es dann gefährlich wird, nehme ich auch noch gerne gratis in Kauf.)

Für den Stern war ich nun gemeinsam mit dem lieben Kollegen Norbert Höfler unterwegs, um das Wirken des Farao-Clans in Deutschland nachzuzeichnen, also der Gruppierung, die am 8. Januar durch eine von Italien aus gegen Widerstände vorangetriebene Polizeioperation geschwächt worden ist. Heute, am 28.3., erscheint das Heft mit unserer Reportage. Um ehrlich zu sein, als wir uns auf einen Zuschnitt der Geschichte einigten, war ich nicht ganz zufrieden. Ich hielt es für nicht allzu spannend, sich entlang den Orten zu bewegen, die wir aus den italienischen Ermittlungsunterlagen kannten. Ich lag kräftig daneben. Denn dieses Setting verschaffte mir Einsichten, die ich so nicht nur nicht erwartet hätte. Nein, sie haben mich geradezu schockiert.

Ich war für Recherchen im Mafia-Milieu schon an vielen Orten unterwegs. In Kalabrien, Sizilien und Neapel natürlich, aber auch im Allgäu, in Stuttgart, Ludwigshafen, Pforzheim und in Frankfurt etwa. Ich war aber noch nie in Melsungen, Borken, Fritzlar, Waldorfhäslach oder Kerstenhausen. Vor allem die Verhältnisse in der hessischen Provinz waren erschreckend: die Verhältnisse dort erinnerten mich sehr an tiefstes Kalabrien.

Dass Deutsche in blinder Zuneigung zum sympathischen Dolce-Vita-Italiener gerne auch mal die Mafia-Verdächtigkeit einiger ausblenden, war mir natürlich bekannt. Was insofern dennoch bitter ist, wie es eines der strukturellen Merkmale in Deutschland ist, die der Mafia das Leben leicht macht. Aber was ich nicht erwartet hätte, ist dass die Mafia inzwischen in manchen Gegenden eine Kontrolle über das Territorium erlangt hat, die ich so nur von Kalabrien kenne. Da werden Eindringlinge von außen wie eben wir Journalisten sofort unter Beobachtung genommen. Da wird ganz entspannt mit freundlichem Ton gedroht – nicht nur uns gegenüber, auch gegenüber anderen Kollegen und Kolleginnen fielen dieselben Worte. Da werden deutsche Unternehmer mit dem Tod bedroht. Da tut die Polizei im ländlichen Raum nichts oder bekommt nichts mit, was im Endeffekt genauso schlimm ist. Wohlgemerkt handelt es sich bei den Mafia-Verdächtigen nicht um Zugereiste, die erst seit Kurzem vor Ort sind. Nein, es sind Geschäftsleute, die bereits vor vielen Jahren auffällig wurden in unterschiedlichen kriminellen Kontexten, die schon vom BKA als Mafiaverdächtige in Berichten geführt wurden, Leute, die nichts zu befürchten hätten, wenn nicht italienische Ermittler deutsche Sicherheitskräfte zum Jagen tragen würden. Da gerät die Polizei nach Festnahmen in Misskredit, weil sie dem ach so netten Gastwirt nachstellt. Der Gipfel der Ignoranz war, dass eine Frau eine (von den Polizeimaßnahmen nicht betroffene) Wirtin beschuldigte, auf dem Rücken der Konkurrenz Werbung für sich zu machen. Was war geschehen? Bei der betroffenen Wirtin waren Anfragen angegangen, ob sie etwas mit den Mafia-Festnahmen zu tun hatten. Daraufhin distanzierte sich die italienische Wirtin auf ihrer Facebook-Seite von der Mafia. Prompt wurde ihr dies zum Nachteil ausgelegt, der Mafia-Gastwirt dagegen in Schutz genommen. Ich weiß, es klingt dramatisch, aber wenn die Gefährlichkeit der Mafia nicht erkannt wird und mutmaßlich Kriminelle von ehrlichen Bürgern verteidigt werden, dann geht es meiner Meinung nach um die Grundfesten unseres demokratischen Zusammenlebens.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Waiblinger Kreiszeitung lobend zu erwähnen, die als doch eher kleineres Medium derzeit in einer mehrteiligen Serie über die ’ndrangheta vor Ort aufklärt.

Ich weiß, dass auch dieser Blogeintrag nichts bringen wird. Aber wenn wir dann in zehn, zwanzig Jahren norditalienische Verhältnisse haben, wo man auch lange glaubte, die Mafia sei ein Problem Süditaliens und wo heute Gemeinderäte wegen Mafia-Infiltrationen aufgelöst werden müssen und manche Geschäftsbereiche nicht mehr von kriminellen Vertretern zu reinigen sind, wenn es also auch in Deutschland so weit gekommen sein wird – und es zeichnet sich ab, das dass passieren kann – dann werde ich wenigstens in den Spiegel sehen können.

Dies ist zwar ein schwacher Trost, aber irgendwie muss man sich ja motivieren.

Kategorie: Blog Stichworte: 'ndrangheta, farao, festnahme, Mafia, operation, stige, Styx

Drei Italiener im Mordfall Kuciak festgenommen

1. März 2018 von S M

Slowakische Medien berichten, dass drei Italiener im Zusammenhang mit dem Mord an Jan Kuciak festgenommen worden sind. Dabei handelt es sich um zwei Söhne des Bosses des Vadalá-Clans, Giovanni Vadalà. Sie sind den Angaben zufolge verbündet mit dem Clan Nucera aus Condofuri bei Reggio Calabria. Dieser Clan ist in der Schweiz ebenfalls mit Einschüchterungen von Journalisten auffällig geworden. In Italien sind zwischen 2006 und 2014 mehr als 2000 Journalisten von der Mafia bedroht worden. Im Ausland gibt es darüber bisher wenig Erhebungen. Es sind aber auch dort, auch in Deutschland, Bedrohungen durch Mafiosi bekannt. Ich würde soweit gehen und sagen, dass Sätze wie „Wer Fehler macht, bezahlt!“ zum Standardrepertoire von mafianahen Kreisen gehören. Das Problem ist: Einschüchterungen sind strafrechtlich schwer zu fassen, erst recht, wenn sie in indirekter Form ausgesprochen werden wie das Mafiosi gerne tun, etwa in dem beschriebenen Satz, oder verpackt als „freundliche Empfehlung“ wie „Passen Sie gut auf sich auf!“.
Wer italienisch spricht und sich en Detail für den Mafia-Hintergrund der jetzt Verhafteten interessiert, dem sei dieser Artikel von Lucio Musolino empfohlen, der wie immer gut unterrichtet ist.

Kategorie: Artikel, Blog Stichworte: 'ndrangheta, Bedrohung, Einschüchterung, Journalist, Mafia

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