In dieser Geschichte fehlt viel. Es fehlen Namen, es fehlen Leben, es fehlen Schuldige, und es fehlen Gräber. Vor allem aber fehlt es an einem: an Menschlichkeit. Eine Reise nach Sant’Anna, wo die deutsche Waffen-SS im August 1944 fast ein ganzes Dorf auslöschte.
Sant’Anna, 6. Dezember 2012, Kontext:Wochenzeitung
Auf die kleine Piazza vor der Kirche scheint die Sonne. Das Eis schmilzt unter dem Licht ihrer Strahlen, auch wenn diese im Spätherbst kaum wärmende Kraft haben. Der Blick reicht dank der klaren Luft weit, bis tief ins Tal hinunter fällt er. Erst nach einer Weile spürt man, dass hier die Stille herrscht. Eine unangenehm frostige Stille. Sie ist nicht Ruhe und nicht Entspannung. Sie ist vielmehr verstummte Gespräche, der Mangel jener Geräusche, die das Leben hervorbringt. Es ist menschengemachte Stille, und sie währt in Sant’Anna di Stazzema schon lange: seit damals, seit 1944, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Brutale Stille, wenn man so mag.
Unter dem Eis der Piazza ist Gras zu erkennen. Breite Steinplatten bilden einen Weg zu der Kirche, deren Tür trotz der Kälte weit geöffnet steht. Kerzen leuchten im Inneren. Der Bau ist aus groben Steinen gebaut, im Inneren aber von einiger Eleganz. Dunkle Holzbänke stehen jetzt wieder in ihr. Dort, wo heute das Gras wächst, war vor 68 Jahren kein Halm mehr. Dort war verbrannte Erde. Drei Einheiten des Zweiten Bataillons des 35. Regiments der 16. SS-Panzer-Grenadier-Division hatten hier mehrere Hundert Menschen zusammengetrieben, hatten sie mit ihren Maschinengewehren zusammengeschossen, die Bänke aus der Kirche gerissen und auf den Berg aus geschundenen, toten und halbtoten Leiber geworfen, Benzin darübergekippt, die Flamme hingehalten. Die Kinder, Frauen und Alten, die sonst hier, auf dem Platz vor der Kirche in Sant’Anna di Stazzema spielten, schwatzten oder auch nur vorbeigingen, verbrannten. Von Anna Pardini blieben nur ein paar Knochen und ein Häufchen Asche. Die kleine Anna aus dem Ort war das jüngste Opfer der Nazischergen. Sie war noch keine drei Monate auf der Welt.
Einen Prozess gegen die Mörder wird es wahrscheinlich nicht geben
Was in Sant’Anna geschehen ist, hält auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart für „grausamen Mord“. In diesem Fall ist das ein juristischer Terminus von einiger Bedeutung: Denn Mord verjährt nicht, Totschlag dagegen schon. Einen Prozess gegen die grausamen Mörder wird es aller Voraussicht nach dennoch nicht geben. Man habe den noch lebenden SS-Männern keinen „konkreten Tatbeitrag“ nachweisen können, schreibt die Staatsanwaltschaft. Die „bloße Einbindung in die Struktur einer Einheit ohne tatbezogenen Beitrag“ genüge nicht für eine Strafbarkeit. Auch Beihilfe zum Mord habe sich nicht nachweisen lassen: Der Gehilfe müsse vorsätzlich handeln, also auch die „Tatumstände, die das Merkmal der Grausamkeit erfüllen, kennen und zumindest billigend in Kauf nehmen“. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart in Person von Bernhard Häußler folgert also: „Anhand dieser Kriterien kann keiner der beschuldigten Personen ein die Strafbarkeit wegen Beihilfe zum grausamen Mord begründender vorsätzlicher Tatbeitrag nachgewiesen werden.“
Seit zehn Jahren ermittelt das Landeskriminalamt Stuttgart in der Sache. Neun der 17 ursprünglich beschuldigten SS-Männer sind in dieser Zeit gestorben. Immer wieder wurde von Opferanwälten die Klage laut, in Stuttgart würden die Ermittlungen verschleppt. Die Anwälte beschwerten sich auch, ihnen würde die Einsicht in Unterlagen ohne Gründe verwehrt, sie hätten diese erst juristisch erzwingen müssen.
Jetzt hat die Einstellungsverfügung jedenfalls die Ermittlungen beendet. Vor allem aber beendet die Einstellungsverfügung aus Stuttgart jede Hoffnung der Überlebenden aus Sant’Anna di Stazzema, dass diese Kriegsverbrecher sich noch für die von ihnen angerichteten Gräuel verantworten müssen. In Italien war ihnen zwar der Prozess gemacht worden, allerdings in ihrer Abwesenheit. Und die Strafen werden sie auch nicht absitzen müssen, denn Deutschland liefert seine Bürger nicht an andere Länder aus. Die jetzt noch lebenden acht Männer werden folglich ihre Taten in Sant’Anna di Stazzema nie sühnen müssen.
Diese Entscheidung von Bernhard Häußler war es, die für eine Gruppe von Stuttgarter Bürgern den Anstoß gegeben hat, eine Solidaritätsfahrt nach Sant’Anna di Stazzema zu organisieren. Ausgegangen war die Initiative von der Stuttgarter Bürgerbewegung Die Anstifter, einem Verein, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Zivilcourage und Eigensinn zu fördern. Der Vorschlag fiel in Stuttgart auf besonders fruchtbaren Boden, denn dort ist der Oberstaatsanwalt Häußler kein Unbekannter, und seine Entscheidungen sind umstritten.
„Der Dieter ist zum Peter gegangen und hat gesagt, da müssen wir doch was machen, das können wir so nicht stehen lassen“, berichtet Julia. Bei den Anstiftern duzen sich alle, Abstimmungen erfolgen basisdemokratisch. Man lebt hier ein eigenes Gesellschaftskonzept. Julia heißt eigentlich Julia von Staden. Die 31-Jährige ist freie Journalistin und Hauptorganisatorin der Reise. Binnen kurzer Zeit hätten sich 30 Leute gefunden, die mitfahren und zum Teil auch mit organisieren wollten, berichtet sie. Einer kümmerte sich um die Busfahrt, jemand um einen Infoabend zu dem Thema in Stuttgart (zu dem rund 300 Zuhörer kamen, weit mehr als Mitfahrer der Tour), andere buchten das Hotel oder organisierten eine Unterschriftensammlung. Jetzt sind 45 Leute in die Toskana gefahren. Die Gruppe sitzt nun im Saal des Historischen Museums des Widerstandes in Sant’Anna, nur wenige Schritte vom Kirchplatz entfernt. Das Gebäude war früher die Dorfschule, doch nach dem Massaker gab es keine Schüler mehr. Heute ist das Museum eines der wenigen Gebäude, die es in dem Ort noch gibt.
Die Erzählungen übertreffen oft, was man an Grausamkeit ertragen kann
Enrico Pieri hat die Sätze auswendig gelernt. Auf dem Weg zum Museum hat der 78-Jährige genau die gleichen Sätze wie jetzt auf dem Podium gesagt und dabei auf ein Waldstück gezeigt. „Hier hinten stand das Haus meiner Eltern. Da haben sie meine Familie und die Nachbarfamilie in die Küche gesperrt, dann mit Maschinengewehren meine Familie niedergemäht und dann, als ob das nicht schon reichen würde, Stroh aus dem Stall geholt, es in die Küche geworfen und angezündet. Die Häuser damals waren ja einfach, mit Holzdecken und -böden. Es hat sofort gebrannt, und die Küche hat sich mit Rauch gefüllt.“ Auch ein Mann aus der Stuttgarter Gruppe sitzt vorne auf dem Podium: Gunther ist eigentlich Krankenhauspfarrer, doch heute fungiert er als Übersetzer.
Vieles, was Pieri erlebt hat, verschweigt der Übersetzer lieber. Weil es das, was man an Grausamkeit ertragen kann, übertrifft. Vielleicht will er sein Gegenüber schonen, vielleicht auch sich selbst schützen. Vielleicht ist das sogar der Grund, weshalb er die Sätze immer gleich sagt: weil sie, wenn man sie zig Mal wiederholt, ein klein wenig von ihrer Monstrosität verlieren. Auch so kann man sich vor der Wucht der Vergangenheit schützen – einer Vergangenheit, die hier in Sant’Anna auch nach vielen Jahrzehnten noch nicht Vergangenheit geworden ist.
Jetzt berichtet Enio Mancini, ein weiterer Überlebender, von dem, was die Deutschen ihm angetan haben. Enrico stiert dabei auf die Tischplatte, spielt mit seinen Händen, dreht einen Plastikbecher wieder und wieder. Es ist ihm wichtig, hier zu sitzen und zu berichten. Aber es tut auch jedes Mal aufs Neue wieder weh. Nach dem Massaker ist er ausgewandert, hat in der Schweiz gelebt und gearbeitet. Dann, nach 30 Jahren, hat es ihn doch wieder dahin gezogen, wo einmal die Heimat war. 1992 fragte ihn sein Freund Enio, ob er im Museum mitarbeiten wolle. Seitdem erzählt Enrico Pieri von seinem Leid.
Der Bürgermeister von Sant’Anna ist gekommen, der Chef des Partisanenverbands, einige andere Überlebende, die die Stuttgarter Delegation sehen wollten. Der Bürgermeister dankt der Gruppe für ihr Engagement und gibt einen Ausblick: Man wolle das Problem der Entschädigungszahlungen auf politischem und diplomatischem Weg lösen, das Thema werde beim Treffen der Außenminister von Italien und Deutschland in Rom in ein paar Wochen behandelt. Aus Turin ist ein Journalist von „La Stampa“ angereist, immerhin die drittgrößte Zeitung Italiens. Der kleine Saal ist fast voll.
Die Augenzeugen von heute waren damals Kinder
Enrico berichtet nun, dass es auch gute Deutsche gab. Die in die Luft geschossen und die Kinder weggeschickt hätten. Der Historiker Paolo Pezzino sagt später, dass der Topos des guten Deutschen immer wieder auftauche. Pezzino forscht seit vielen Jahren zu den Massakern in seiner Heimat, der Toskana. Er hat Dutzende von Augenzeugen befragt, kennt die Aussagen der wenigen deutschen Beteiligten, die diesen Schritt getan haben. „Die Erinnerung der Beteiligten lässt sich nicht immer verifizieren“, berichtet er. Die Augenzeugen seien damals meist Kinder gewesen, und oft verforme sich mit den Jahren das, was im Gedächtnis gespeichert sei. Beispielsweise erinnerten sich manche Opfer der Deutschen, dass Flammenwerfer zum Einsatz kamen. Selbst wenn sehr viel dagegen spricht, dass dem so war. Und es ohnehin wenig braucht, um etwa ein Haus anzuzünden: etwas Stroh, vielleicht Benzin, ein Feuerzeug. „Das ändert aber alles nichts daran, dass es diese Massaker gab und dass sie extrem grausam waren“, sagt Pezzino.
Hier in Sant’Anna di Stazzema brauchen sie wohl die Erinnerung an die zwei guten deutschen Soldaten, um dieses Grauen überhaupt ertragen zu können. Es ist offensichtlich, dass Enio Mancini und Enrico Pieri sich daran festhalten. Ohne ginge es wohl nicht. Gunther, der Übersetzer, bekommt bei ihrem Vortrag mehrmals feuchte Augen, muss abbrechen. Er blickt dann nach unten, kämpft gegen die Tränen. Im Saal ist es still. Nur einmal dudelt ein Handy einer Italienerin „Freude schöner Götterfunken“. Ausgerechnet Beethovens „Ode an die Freude“! Ein paar Leute lachen vorsichtig. Vielleicht weil der Moment so unpassend war, vielleicht auch, weil die Anspannung ein Ventil sucht.
Enrico dankt den Stuttgartern sichtlich bewegt für das Zeichen, das sie gesetzt haben. Er sei vor ein paar Jahren Bürger Europas geworden, und seine Kinder schicke er sogar auf eine deutsche Schule. „Das war keine leichte Entscheidung“, sagt er. Er will versöhnlich sein. Er hoffe, dass Europa noch ein paar Schritte nach vorne mache.
Aber was ist das für ein Europa, in dem im einen Land Mörder schuldig gesprochen werden und sich die Schilderungen ihrer Tat wie ein Handbuch der Grausamkeiten lesen, während die Täter in ihrem Heimatland fast alle ungeschoren davonkommen? Der Befehlshaber, der die Verantwortung für das Massaker in Sant’Anna trägt, heißt Gerhard Sommer, er wohnt unbehelligt in Hamburg in einem Altenpflegeheim. Es gibt sogar Aussagen von Soldaten, die unter ihm dienten und sich selbst des Mordes an Frauen und Kindern bezichtigten. Und warum, noch so eine schwierige Frage, der sich auch der baden-württembergische Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) stellen muss, der die Einstellung der Ermittlungen abgesegnet hat, warum um alles in der Welt wird zehn Jahre lang ermittelt, und am Ende kommt doch nichts dabei heraus? Ging das wirklich nicht schneller, wo doch die Beschuldigten alle des Alters wegen schon dem Tod ins Auge sehen? Oder sollte es womöglich gar nicht schneller gehen?
Und warum ist derselbe Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, der im Fall von Sant’Anna wenig Tatendrang zeigt, umso schneller, wenn es darum geht, einen Händler anzuklagen, der T-Shirts mit einem durchgestrichenen Hakenkreuz verkauft hat? Jedem auch nur halbwegs gebildeten Menschen erschließt sich die eindeutig antifaschistische Aussage dieses Symbols sofort. Die baden-württembergische Justiz dagegen sah darin einen Verstoß gegen das Verbot von verfassungswidrigen Symbolen. Es sind Fragen, auf die jede Antwort fehlt. Dabei hätten zumindest die wenigen Überlebenden der Nazimassaker jedes Recht der Welt, sie zu erfahren.
Gunther hat nach den ergreifenden Schilderungen der zwei Überlebenden das Mikrofon weitergegeben. Jetzt steht er draußen vor der ehemaligen Schule und antwortet auf die Fragen des italienischen Journalisten. Warum er denn mitgefahren sei, will der wissen. Gunther ist es eigentlich gewohnt zu reden, er kennt auch das Leiden. Denn Gunther Leibbrand arbeitet als Krankenhauspfarrer. Jetzt kämpft er mit sich. „Wissen Sie“, sagt er dem italienischen Journalisten, „wissen Sie, als ich acht Jahre alt war, hat meine Mutter mir erzählt, wie sich mein Cousin brüstete. Er spiele mit den Köpfen von Juden Fußball, sagte er, er war Wachmann in einem KZ.“ Wieder kommen Gunther Leibbrand die Tränen.
Am Abend tauschen sich die Stuttgarter in einer großen Runde aus. Sie haben eine Spende mitgebracht, 4000 Euro, doch wie soll es nun weitergehen? Man könne das Thema doch in die Schule bringen, sagt jemand aus der Runde, bei den Lesungen zum 9. November etwa, einer Initiative, mit der inzwischen rund 15 000 Schüler in Baden-Württemberg erreicht werden. Oder eine Ausstellung zum Thema machen. „Man darf die Täter nicht in Ruhe lassen und auch den Häußler nicht. Wir können zwar nicht verhindern, dass er so entscheidet, aber er soll es wenigstens nicht in Ruhe tun können“, sagt einer.
Gunther Leibbrand bleibt still. Er erinnert sich, wie er als Kind den anderen Kindern aus der Nachbarschaft nicht sagen durfte, dass seine Eltern keine Nationalsozialisten waren. Der Krieg war zwar schon ein paar Jahre vorbei, doch die Nachbarn waren eben Nazis.
Die Stille, sie dauerte lange.