Üblicherweise dringt von Jury-Sitzungen bei Journalistenpreisen nicht allzu viel nach draußen, zumindest nicht zu mir. Doch im Jahr 2013 war das auf bitterkomische Weise anders. In einem Festsaal am Potsdamer Platz wurde der Deutsche Reporterpreis verliehen, es war eine mittelmäßige Party, wie das oft bei Preisverleihungen so ist, aber immerhin, es war eine Party. Einige Zeit nach dem Ende der offiziellen Zeremonie kam ein Kollege zu mir, den ich nicht persönlich kannte, dessen Wettbewerbsbeitrag ich allerdings sehr geschätzt hatte. Er sagte, er wolle mich kennen lernen, was in mir Fragezeichen aufsteigen ließ. Er berichtete mir, eine Jurorin sei zu ihm gekommen, und habe ihm gesagt, dass er beinahe den Reporterpreis gewonnen hätte. Sie hätten sich dann kurz unterhalten, und als die Jurorin dann sagte, dass das ja schlimm sei mit der Mafia, schwante ihm so langsam, dass eine Verwechslung vorliegen musste. Er habe der Jurorin erklärt, dass er gar nicht über Mafia gearbeitet habe, sondern über Migration. Wie diese Begegnung dann geendet ist, weiß ich nicht mehr.
Es war ein merkwürdiger Moment für mich: Ich hatte Mitleid mit diesem wirklich sympathischen Kollegen, denn was gibt es Blöderes, als gesagt zu bekommen, dass man fast der Sieger war, und dann auch noch verwechselt zu werden? Und dann war da für mich auch die Freude, zu wissen, dass ich es mit meiner Geschichte über den Mafia-Kronzeugen Luigi Bonaventura fast geschafft hatte. Allerdings ist es fast befriedigender, irgendwo in der Endauswahl gelandet zu sein als auf dem zweiten Platz.
Der zweite Platz ist so etwas wie die Nichtmedaille im sportlichen Betrieb für den 4. Platz. Dafür gibt es kein Geld und keine Anerkennung (damals war der Reporterpreis noch mit einem anständigen Preisgeld versehen!). The winner takes it all, um aus aktuellem Anlass mal einen Liedtitel einzubauen.
Denn gewonnen hat den Preis damals der Kollege Claas Relotius, dessen Kollegialität man nun aber massiv anzweifeln muss. Ich habe mich damals gefreut, dass immerhin mein Kunde, das Magazin Reportagen, den Preis bekommen hat. Ein schweizerisches, toll gemachtes Heft, ein kleines Liebhaberprojekt, betreut von einer Redaktion, die sehr gut zu ihren Autoren ist und zugleich mit viel Herzblut bei der Sache. Claas Relotius kannte ich nicht. Irgendwann hat er mich bei Facebook als Freund hinzugefügt und wir haben, glaube ich, mal ganz kurz ein paar Takte gewechselt. In der Folge beobachtete ich seine Karriere aus der Ferne.
Als ich gestern die Reportage zu seinem Fall im Spiegel las, fiel mir diese Episode wieder ein. Mein erster Gedanke war: der arme Kerl. Mein zweiter: eine Geschichte, ideal für eine wahnsinnige Reportage. Dann dachte ich darüber nach, dass wir ein systemisches Problem im Journalismus haben, das mit vielen Faktoren zusammenhängt: die Reportage, die wiederentdeckt worden ist, das Heldentum des Reporters (übrigens könnte man das Thema Betrug im Journalismus auch mal gendern, mit fällt keine Frau ein, die sich solch grobe Verfehlungen wie Kummer, Relotius und Co geleistet hat), die Anfälligkeit der Reportage für Missbrauch, der Kosten- und Konkurrenzdruck im Medienwesen, die zunehmende Personalisierung und Egozentrismus im Journalismus (ich absolvierte mein Volontariat bei der Stuttgarter Zeitung, dort lehrte man damals, 2006, noch die alte Schule, die auch vorsah, den Berichtenden nur in Ausnahmefällen in den Fokus zu stellen, sich ansonsten aber als Diener zu verstehen). Dies sind im Übrigen Überlegungen, die nichts mit dem Spiegel zu tun haben, sondern die unsere gesamte Branche betreffen. Und für grundverkehrt halte ich es, den jetzt aufgeflogenen Betrug der Textgattung Reportage anzuhängen. Eher ist es so, dass sie Opfer ist und nicht Täter.
Erst ganz am Ende habe ich darüber nachgedacht, was wohl passiert wäre, wenn ich 2013 mit meiner Reportage den Preis gewonnen hätte und nicht der betrügerische Kollege (zu dessen Verteidigung zu sagen ist, dass ich nicht weiß, ob in der geehrten Geschichte auch getrickst worden ist). Natürlich hätte mir die Aufmerksamkeit und Bestätigung damals gut getan und natürlich wäre das Geld willkommen gewesen. Aber wahrscheinlich hätte der Preis ansonsten gar nicht viel geändert. An sich ist das auch egal, denn ich bin zufrieden, wie es ist.
Ich denke, wir müssen auch hier aufpassen, dass wir Ursache und Symptom eines Phänomens fein auseinander halten. Man kann einen Journalistenpreis nicht dafür haftbar machen, was Leute tun, um ihn zu gewinnen. Man kann die Abhängigkeit in der Branche von Journalistenpreisen aber sehr wohl reflektieren. Auch dies sollte jetzt, als Aufarbeitung des Fall Relotius, passieren, im Übrigen nicht nur bei dem betroffenen Medium, sondern in der gesamten Branche – weil es die gesamte Branche betrifft.
Ich glaube auch, dass wir über das Thema Kostendruck reden müssen. Einige Kunden von mir kalkulieren meine Aufenthalte vor Ort mit dem absoluten Minimum, erwarten aber natürlich eine tolle Geschichte. KollegInnen berichten über Ähnliches. Wenn meine Erfahrung eines zeigt, dann dies: dass (ehrliche) gute Geschichten Zeit brauchen. Und somit Geld kosten. Es ist ganz einfach: je mehr Zeit man für eine Geschichte vor Ort hat, umso wahrscheinlicher ist es, dass das Reporterglück einem einen Besuch abstattet. Manche Kollegen sind wohl zu sehr verführt, mangelndes Reporterglück mit Biegen der Geschichte und Brechen der Regeln herbeizuschreiben. Und mich kotzt es ehrlich gesagt an, Entschuldigung bitte für die drastische Wortwahl, mit solchen Leuten im Wettbewerb zu stehen. Weil sie Druck auf mich ausüben, von meinen Prinzipien abzuweichen, dem ich nicht nachgebe, und dann die Nachteile in Kauf nehmen muss, die daraus resultieren. Dem Interviewfälscher Tom Kummer habe ich das auch mal klar gesagt, allerdings ohne groß eine Reaktion seinerseits zu bekommen. Allen anderen, die Schummeln und Tricksen im Journalismus, um persönliche Vorteile zu bekommen – bitte, tut das nicht. Ihr hintergeht nicht nur Eure Kolleginnen und Kollegen, die ehrlich arbeiten. Ihr sägt zudem an dem Ast, auf dem ihr sitzt. Und dieser Ast wächst ziemlich hoch, so dass ihr tief fallt…
PS: Meine Kollegen von Prorecherche wiesen mich soeben auf den Fall von Janet Cooke hin, die ebenfalls Artikel gefälscht hatte, und für einen manipulierten Text für die Washington Post mit einem Pulitzer Preis ausgezeichnet worden war.