Auch deutscher Abfall vergiftet die Menschen rund um Neapel – Carmine Schiavone und der Atommüll aus Deutschland. Ein Klick auf das Bild öffnet das Video in einem neuen Fenster.
Millionen Tonnen hochgiftigen Mülls soll der berüchtigte Mafia Clan der Casalesi auf den fruchtbaren Feldern rund um Neapel illegal vergraben haben. Ärzte beklagen seitdem steigende Krebsraten. Die Polizei beschlagnahmt kontaminiertes Gemüse. Erstmals im deutschen Fernsehen packt nun der Mafia-Kronzeuge Carmine Schiavone über das Geschehen auf dem heute Terra dei Fuochi, Feuerland, genannten Gebiet aus.
Bericht: Mike Lingenfelser, Sandro Mattioli, Andrea Palladino, Reinhard Weber
Wir sind in Süditalien. Auf der Fahrt zu einem Mafia-Kronzeugen – an einem streng geheimen Ort. Erstmals gibt Carmine Schiavone ein Interview im deutschen Fernsehen über das Geschäft mit Giftmüll aus Deutschland.
Als er uns in seinem Garten empfängt und erzählt, dass er hier nur biologisch anbaut, möchte man fast vergessen, dass dieser Mann viel Blut an den Händen hat. Jahrelang war er Chef der berüchtigten Casalesi.
Aus gutem Grund isst er nur noch sein eigenes Gemüse. Zu viel Giftmüll hat sein Mafia-Clan in den Äckern verbuddelt.
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Ich esse nicht mal mehr die Tomaten aus der Dose.“
Besuch in der Villa des Ex-Mafiabosses. Sein Clan ist der Gefürchtetste rund um Neapel. Auch mit Waffen hatte er gehandelt, etwa Kalibern wie dieser Attrappe. Offen spricht er über hunderte Auftragsmorde und ein gutes Duzend, das er selbst verübt hat.
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Wir haben sie mit Pistolenschüssen umgelegt, mit Maschinenpistolen und Gewehren, dann gab es das Strangulieren. Und wir haben sie in Säure aufgelöst oder sie an Orten vergraben, wo manche bis heute nicht gefunden wurden.“
Schiavone zeigt bei den Morden keine Reue. Aber eines will er nicht auf sich sitzen lassen: Dass sein Clan ganze Landstriche mit Giftmüll verseucht und damit Menschen vergiftet hat. Als er versucht habe, seine Kumpanen vom lukrativen Giftmüllgeschäft abzuhalten, haben sie ihn an die Polizei verraten.
Seitdem packt er aus – als Kronzeuge.
Bereits vor 20 Jahren sagte er aus, dass sein Clan Millionen Tonnen illegal entsorgt hat. Nicht nur in Mülldeponien, sondern in großem Stil inmitten der Obst- und Gemüsehochburg Kampanien. Vor allem hier rund um Casal di Principe.
Noch heute entsorgt die Mafia den Müll unter der Erde und auf den Straßen rund um Neapel – oder zündet ihn einfach an. Feuerland nennt man deshalb die Gegend der giftigen Dämpfe und verseuchten Böden.
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Da unten liegt normaler Müll, Giftmüll jeder Art und der nukleare. Die Leute haben also nicht mehr als 20 Jahre zu leben. Dann geht hier alles hoch.“
Studien belegen: In der Gegend steigen die Krebsraten. In der Kirche von Caivano: Trauer um viele tote Kinder. Die Ursache sind Tumore. Schuld soll der Atom- und Giftmüll sein, beklagen die Mütter. Wir besuchen sie. In der Not halten sie sich an ihren Fotos und Namen fest.
Tina Zaccharia: „Das ist für uns die einzige Möglichkeit, damit die Erinnerung an unsere Kinder nicht stirbt.“
Marzia Caccioppoli: „In praktisch jeder Familie gibt es einen Krebskranken. Das ist doch nicht normal, dass so viele Leute unter 50 einen Tumor haben. Da kann der Staat doch nicht so tun, als wäre nichts, wenn sich hier auf unserem Boden ein wahres Drama abspielt.“
Tatsächlich hatte Schiavone eine parlamentarische Untersuchungskommission über hochgiftige und radioaktive Abfälle in Böden Kampaniens bereits 1997 informiert; etwa darüber, „dass aus Deutschland Lastwagen kamen, die nukleare Schlämme transportierten, die dann in Müllgruben abgeladen wurden.“
Führt die Spur auch nach Deutschland?
In einer bayerischen Kaserne wurde Schiavone auch von deutschen Ermittlern verhört. Die Italiener hatten den hochrangigen Mafioso mehreren deutschen Behörden für rund zwei Wochen ausgeliehen. Schiavone erinnert sich:
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Nirgends lagen Zigarettenkippen auf dem Boden, dafür überall Mülleimer. Bei euch ist es so sauber, dass es fast schon wieder eklig ist. So etwas hatte ich in Italien noch nie gesehen.“
„Ich war im Hotel untergebracht, da gab es ein Hallenbad, eine Diskothek und ein Restaurant, aber meistens aßen wir beim Italiener.“
Wir treffen den LKA-Beamten, der Schiavone zur Mafia verhört hat, den Kronzeugenexperten Ernst Wirth. Um den übergelaufenen Mafioso gesprächig zu machen, gab es auch ein Betreuungsprogramm.
Ernst Wirth, Landeskriminalamt Bayern: „Wir waren nach den offiziellen Vernehmungen gemeinsam essen oder gemeinsam in Veranstaltungen, oder haben eine Stadtführung durch München gemacht.“
report München: „Und ins Spielcasino durfte er auch mal?“
Ernst Wirth, Landeskriminalamt Bayern: „Das schließe ich nicht aus.“
Schiavones präzise Aussagen führten zu vielen Ermittlungen und Festnahmen.
Ernst Wirth, Landeskriminalamt Bayern: „Carmine Schiavone ist für mich absolut glaubwürdig, das ist sein Kapital.“
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Ich habe mit den Deutschen aber auch über den radioaktiven Müll gesprochen.“
Ernst Wirth, Landeskriminalamt Bayern: „Jetzt müsste man im Detail prüfen, wo er diese Aussagen getätigt hat. Ich kann nur sagen, bei mir in meinen Vernehmungen nicht.“
Auch BKA und Bundesnachrichtendienst teilen uns mit, nicht mit Schiavone über Müll gesprochen zu haben. Aussage steht gegen Aussage.
Ist es denkbar, dass die Mafia radioaktiven Abfall aus Deutschland verschwinden ließ? Wir fragen die Atommüllexpertin Ursula Schönberger.
Ursula Schönberger, Atommüllexpertin: „Ich halte es natürlich für möglich, dass die Mafia Atommüll aus Deutschland entsorgt hat.“
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Er kam in Bleikisten. Die waren ungefähr 50-60 cm lang, so etwa – und so hoch und so tief.“
Ursula Schönberger, Atommüllexpertin: „In den Bleiboxen, so wie sie beschrieben worden sind, da ist es höchstwahrscheinlich, dass sich da hochradioaktive Gammastrahler befinden. Das sind Stoffe, die in der Industrie, Forschung, Kerntechnik, Medizin oder bei der Armee verwendet werden.“
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Ich weiß, dass auf den Kisten aus Deutschland der Adler drauf war.“
Der ehemalige technische Leiter einer Deponie erzählt uns, wie illegaler Giftmüll generell vergraben wurde.
Achille Cester, Ehem. technischer Leiter einer Mülldeponie: „Die Abfälle kamen am frühen Morgen an und die Pförtner steckten 50 Mark Bestechungsgeld ein. Manche prahlten mit Autos, die das Zwanzigfache ihres Gehalts kosteten.“
Der Polizist Roberto Mancini verfolgt den Fall seit 20 Jahren. Er hat mit Schiavone dort gesucht, wo der Nuklearmüll vergraben sein soll. Und vielleicht genau deshalb hat er heute Krebs, inzwischen als Berufskrankheit anerkannt. Seinen Ermittlungsbericht aber behielt man in der Schublade.
Roberto Mancini, ehemaliger Kriminalbeamter aus Rom: „Ich beriet das Parlament, wurde dann aber mehrfach degradiert und landete im Innendienst. Ist das ein Zufall?“
Und sogar als „geheim“ eingestuft wurden Schiavones Aussagen – 16 Jahre lang. Jetzt werden kontaminierte Gemüsefelder beschlagnahmt und Altlasten gesucht. Doch wo soll man anfangen? Italien bangt, was zu Tage kommen wird. Selbst der Ex-Mafioso hat Angst.
Carmine Schiavone, Mafia-Kronzeuge: „Ich backe sogar mein Brot selber, denn auch das Brot könnte kontaminiert sein.