Das Böse wohnt in der Nachbarschaft? Der jüngste Antimafia-Einsatz war spektakulär und hat gezeigt, wie massiv sie hierzulande vertreten ist. Gerade in Baden-Württemberg. Dennoch hält sie kaum jemand für wirklich gefährlich. Warum eigentlich? Fünf Thesen dazu, die ich in der Kontext:Wochenzeitung veröffentlicht habe:
1. Das Böse ist anderswo, aber nicht in unserer Nachbarschaft.
Sicher hätten sich die Sportler des TV Häslach in Walddorfhäslach im Jahr 2015 nicht träumen lassen, dass der neue Wirt des Vereinsheims ein Mafioso ist. Genauso verhält es sich bei einem anderen Gastronomen im Raum Stuttgart, der eine Zeit lang sogar einen Link zu einer Art Hymne der ’ndrangheta auf seiner Seite hatte. Auch Angela Merkel, die gewiss jeder Nähe zur Mafia unverdächtig ist, hat in Mitteldeutschland ein Lieblingsrestaurant, vor dem sie der Staatsschutz bereits gewarnt hat, dort doch besser nicht zu speisen.
Auch ich persönlich befinde mich in einer schwierigen Situation: Ich mag italienisches Essen sehr gerne. Zugleich lese ich in geheimen Ermittlungsunterlagen, dass der jetzt verhaftete Mario Lavorato „146 Restaurants hat“. Jener Mario also, der sich angeblich gut mit Günther Oettinger verstand. Gerne hätte ich eine Liste mit diesen Lokalen, die gibt es aber nicht. Auf der anderen Seite bin ich Vorsitzender des Vereins mafianeindanke in Berlin, der vor zehn Jahren entstanden ist, und zwar aus einer Gruppe von knapp 50 italienischen Gastwirten, die sich von den italienischen Mafia-Organisationen distanzieren wollten. Wir leisten Aufklärungsarbeit, recherchieren, veröffentlichen einen monatlichen Newsletter, und Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, Mittel dafür zu bekommen – weil eben alle denken, die Mafia ist ein Problem, das sie nichts angeht.
Mit dem Hintergrundwissen, was ich habe, sehe ich allerdings viele Vorgänge und erfahre viele Details, die mich sorgenvoll stimmen. Leider kann man aus rechtlichen Gründen über vieles nicht sprechen und schreiben. Das deutsche Recht stellt nämlich unter Strafe, Menschen als Mafia-Verdächtige zu bezeichnen – das wäre eine Diffamierung. Zugleich ist es nach deutschem Recht irrelevant, ob jemand der Mafia angehört oder nicht. Dies bedeutet, dass eine Verdachtsberichterstattung über die Mafia de facto nicht möglich ist. Dabei sind es in anderen Feldern oft Verdachtsberichterstattungen, die Ermittlungen auslösen.
Sie sehen, die Katze beißt sich in den Schwanz: Wenn nicht berichtet wird, ist die Mafia tatsächlich anderswo. Wenigstens weiß man jetzt, dank der Staatsanwaltschaft in Catanzaro, dass sie auch in Walddorfhäslach, im Rems-Murr-Kreis, im Ortenaukreis und im Landkreis Reutlingen ist. Zusammen mit vorhergehenden Festnahmen und Ermittlungen (Hechingen, Ludwigsburg, Metzingen, Pforzheim, Singen, Baden-Baden, Rastatt, Rielasingen-Worblingen, Tübingen, Stuttgart, Konstanz, Waiblingen, Backnang …) können wir sagen, dass sie in Baden-Württemberg quasi flächendeckend vertreten ist.
2. Das Böse ist anders als wir, im Umkehrschluss: Wir müssen es doch irgendwie erkennen können.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liest man nach jeder Festnahmewelle Berichte in den Lokalteilen der Zeitungen über die Mafia, und immer werden darin Nachbarn (Arbeitskollegen, Parteikollegen, Vereinsfreunde etc.) zitiert, die sagen, sie hätten sich nie vorstellen können, dass XY ein Mitglied der Mafia ist. Die Clans haben gelernt, dass absolute Unauffälligkeit am besten für sie und ihre Geschäfte ist. Sprich, für den Otto Normalverbraucher ist es quasi unmöglich, eine Mafia-Zugehörigkeit zu erkennen. Ich selbst habe ehemals hochrangige Mafiosi kennengelernt, die Kronzeugen geworden sind. Es waren zuvorkommende, nette, angenehme Menschen. Zum Teil wussten nicht einmal ihre engsten Verwandten, mit wem sie es zu tun haben.
Anders verhält es sich bei Personen, die für Mafiosi wichtig sind – seien es Unternehmer, die ihnen bei ihren Geschäften behilflich sein können, Menschen aus der Politik, zu denen der Kontakt von den Clans immer gesucht wird, oder auch Abnehmer von Kokain. Diese Leute haben durchaus die Möglichkeit zu durchschauen, mit wem sie es zu tun haben. Das Problem ist: Ist es den Mafiosi erstmal gelungen, eine „Freundschaft“ aufzubauen, interessiert die Betroffenen der Hintergrund ihres „Italieners“ nicht mehr. Und manche lassen sich auch gerne zu einer Reise nach Italien einladen.
3. Wir kennen das Böse aus Filmen, und es ist ganz anders als unsere Umwelt.
Die Mafia profitiert wesentlich davon, dass wir quasi festzementierte Vorstellungen von ihr haben. Die Paten-Filmreihe ist zwar schon lange her, aber sie wirkt immer noch nach: Männer im schwarzen Anzug, die Sonnenbrille, Pistole, feste Rangordnung, strenge Riten … Diese Sicht war damals schon undifferenziert, denn sie ließ die anderen Mafia-Organisationen (Camorra, ‚Ndrangheta, Sacra Corona Unita) außen vor und rückte die sizilianische Cosa Nostra in den Mittelpunkt. Vor allem aber hat sich die heutige Mafia davon schon lange gelöst. Zum Teil setzt sie auf Projektteams, die einen Plan umsetzen und sich dann wieder auflösen. Es gibt zudem Topmafiosi, die die Rituale der Clans wie die Taufe und Versammlungen für Kokolores halten. Die Clans befinden sich in einem steten Wandel, das macht sie so stark.
Mit den Klischees aus Film und Fernsehen haben reale Mafiosi nur wenig gemein.
Organisatorisch: Um weitere Morde wie 2007 in Duisburg zu verhindern, hat man neue Strukturen geschaffen, die auch funktionierten, wie eine Auseinandersetzung zweier Clans aus dem schweizerischen Frauenfeld und dem baden-württembergischen Singen zeigt, die friedlich in Kalabrien gelöst wurde.
Technisch: Lange verwendeten die Mafiosi Geräte, die sie für noch abhörsicher hielten, zum Beispiel Blackberry-Geräte. Jetzt ließen sie eigens eine Verschlüsselungs-App programmieren.
Wirtschaftlich: Die Clans haben ein feines Gespür, wie sich die Milliarden, vor allem aus dem Drogenhandel, waschen lassen, und wie man das Geld dann am besten investiert. Dazu gehören auch neue Wirtschaftszweige wie zum Beispiel die Erneuerbaren Energien. Auch Gelder aus Stuttgart wurden in mafiöse Photovoltaik-Anlagen in Italien investiert. Die Gelder stammten aus dem Umfeld von Mafia-Verdächtigen, wie Ermittlungen in Italien und Deutschland ergeben haben.
Methodisch: Vor zehn Jahren wurde Schutzgeld in Deutschland noch mittels Brief und persönlichem Besuch erpresst. In der Zwischenzeit müssen Gastwirte überteuerte Produkte kaufen. Im Fall des Farao-Clans, der jetzt im Fokus der Ermittlungen stand, waren das Lebensmittel (Wein, Mozzarella, Teigprodukte).
4. Das Böse ist vor allem das, was wir als böse erkennen.
Bertolt Brecht schrieb in seiner Dreigroschenoper den Satz: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Dieser Satz verdeutlicht auf perfekte Art und Weise das Problem der Mafia-Wahrnehmung. Denn er zeigt, dass die Definition des Bösen kein absoluter Prozess ist, sondern vielen Faktoren, auch gesellschaftlichen, unterliegt. In Italien sind das andere als in Deutschland. Dort reicht es, der Mafia zugehörig zu sein, um bestraft zu werden. Denn zum einen ist die Kenntnis des ungeheuren Leidens, das die Mafia-Clans schaffen, Bestandteil des kollektiven Bewusstseins, zum anderen hat Italien andere historische Vorprägungen.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs tut sich Deutschland mit Kollektivstraftaten schwer (obgleich auch nicht so sehr, wenn es um linksradikale Terror-Kriminalität geht). Gleiches gilt für den Einzug kriminellen Vermögens. Was in Italien als Bestandteil eines stark präventiv wirkenden Gesetzeswerks gesehen wird, ist in Deutschland Teil eines Katalogs von Strafen des Staates, und die Beschlagnahme von Privateigentum ist in Deutschland gleich in doppelter Hinsicht problematisch, aufgrund des Vorgehens im Nationalsozialismus sowie in der DDR.
Diese Fixierung auf die Deliktebene spielt den Mafia-Organisationen mehrfach in die Karten. Denn ihre Straftaten sind aus verschiedenen Gründen schwer nachzuweisen. Der Handel mit Kokain läuft stark konspirativ und auch die Wirkung, die einige Konsumenten entfalten können, mag in manchen Gegenden ein Faktor sein. Mafia-Ermittlungen sind sehr aufwändig, man braucht teure Übersetzer und viel Personal, und aufgrund der deutschen Gesetze kommt oft nichts dabei herum. Zugleich reicht das Instrumentarium der Ermittler nicht aus, um zum Beispiel Kapitalströme in angemessener Zeit kontrollieren zu können. Auch ist die Zahl der Polizisten für schwierige Aufgaben zu niedrig.
5. Das Böse zu bekämpfen, ist Aufgabe aller Teile einer Gesellschaft. Fällt ein Teil dabei aus, gerät das Unterfangen ins Stocken.
Das ist nicht mein Problem, das geht mich nichts an. Mafiamorde betreffen doch nur Mafiosi. Die Investition kriminellen Kapitals in Deutschland tut doch niemandem weh. Was stört mich Geldwäsche? So denken wohl viele, und genau diese reduzierte Sichtweise ist es, die den Mafia-Organisationen am besten in die Hände spielt.
Abgesehen davon, dass es viel zu wenig Wissen gibt über die Auswirkungen von Geldwäsche (beispielsweise ist ein Zusammenhang von steigenden Mieten und Geldwäscheinvestitionen im Immobiliensektor naheliegend), ist unstrittig, dass die Aktivitäten der Organisierten Kriminalität uns alle betreffen. Das mahnende Beispiel ist Norditalien: Dort sagte man sich vor Jahren, die Mafia sei ein Problem des Südens. Inzwischen sind manche Gewerbezeige so mafiaverseucht, dass man die Kriminellen nicht mehr aus der Wirtschaft bekommt. Das hat erwiesenermaßen Auswirkungen auf die Produktivität. Und die Zahl der Gemeinderäte, die wegen Mafia-Infiltrationen aufgelöst wurden, ist in Norditalien höher als in Süditalien.
Besonders alarmierend für uns: In Deutschland gibt es 60 Locale der ’ndrangheta, eine Art Ortsverein, und damit mehr als in Norditalien. Diese Zahl nannte der Staatsanwalt Nicola Gratteri, einer der absoluten Experten für die ’ndrangheta in Deutschland und der Mann, der mit seinen Ermittlungen jetzt den jüngsten Schlag auslöste. Jedes Locale hat mindestens 49 Mitglieder, macht also fast 3000 Mitglieder der ’ndrangheta. Dazu kommen noch die anderen Mafia-Organisationen.
Vor allem das sizilianische Beispiel zeigt, dass alle Teile einer Gesellschaft sich gemeinsam gegen die Organisierte Kriminalität stellen müssen, um etwas zu bewirken. Dort wurde die Cosa Nostra erheblich geschwächt, weil sie den Rückhalt in der Gesellschaft verloren hat. Es genügt nicht, wenn die Polizei für das Thema sensibilisiert ist, die Staatsanwaltschaften müssen mitziehen. Die Staatsanwaltschaften wiederum brauchen Gesetze, die anwendbar sind gegen die Organisierte Kriminalität. Bürger müssen die Möglichkeit haben, Verdächtiges melden zu können, ernst genommen werden und ein offenes Ohr finden. Löblich ist hier die Initiative Insieme si può des LKA Baden-Württemberg. Und Unternehmer müssen manche Profitmöglichkeit auslassen. In der Schweiz wird an Schulen informiert über die Gefahren, die von der Mafia ausgehen. In Stuttgart gibt es ein ähnliches Pilotprojekt, Gelebte Zivilcourage, das Schule machen sollte. Warum nicht die italienische Antimafia-Bewegung als regulären Teil des Lehrplans verankern? Ansätze, etwas gegen Organisierte Kriminalität zu tun, gibt es viele. Los geht’s!