Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft in Tübingen, hat eine schöne Verteidigung des Qualitätsjournalismus‘ in der Zeit mit dem Titel „Volle Ladung Hass“ veröffentlicht. Dennoch konnte ich es nicht lassen, ihm zu widersprechen:
„Sehr geehrter Herr Pörksen,
haben Sie vielen Dank für Ihren klugen und differenzierenden Artikel „Volle Ladung Hass“. Als Journalist bin ich sehr froh darüber, wenn Menschen, deren Stimme gehört wird, meinen Berufsstand verteidigen. Leider muss dieser sich an allen Ecken und Enden gegen Bedrohungen erwehren – seien es Sparmaßnahmen und blödsinnige Ausdünnungen von Redaktionen, seien es Mechanismen, die für das Messen journalistischen Erfolgs auf Termini wie Quote und Klicks zurückgreifen, oder seien es geheimdienstlerische Überwachungsmaßnahmen. Diese gefährden meiner Einschätzung nach den investigativen Journalismus erstmals im Kern, ist es doch nahezu unmöglich, dem von NSA und anderen Diensten ausgeworfenen weltweiten Netz zu entkommen, im Übrigen ein Aspekt, der mir in der Diskussion um NSA und Co. viel zu wenig Beachtung findet. Umso wichtiger ist es, die Bedeutung guten Journalismus zu betonen, wie Sie dies auch in ihrem Artikel tun. Eine volle Ladung Dank also meinerseits dafür.
Allerdings möchte ich Ihnen in einem kleinen, aber für mich sehr bedeutenden Punkt widersprechen: für mich ist die meiner Meinung nach äußerst mangelhafte Aufarbeitung des NSU-Skandals vor allem durch größere Medien ein Versagen des Qualitätsjournalismus in Deutschland. Zwar sind viele Artikel in Deutschland zu diesem Thema erschienen und damit ist ausgiebig dokumentiert, welche Kleidung Beate Zschäpe wann vor Gericht trug und wie sie auf die Aussage X, Y oder Z reagierte. Doch es ist nicht im Ansatz gelungen darzustellen, wie es zu dem NSU-Skandal kommen konnte, wer wann wo versagt hat, ja, wer und was überhaupt der NSU genau war, und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, einmal abgesehen von Verurteilungen der in München vor Gericht stehenden Personen. So viele offene Fragen! Es ist wie wenn man bei einem Eisberg die aus dem Wasser ragende Spitze abtrennt, sich auf den verbleibenden Teil stellt und sagt: Kein Eisberg weit und breit zu sehen.
Mein Eindruck ist, dass viele Redaktionen vor der Komplexität dieses Skandals kapituliert haben und ich meine, man kann darin auch eine Manifestation des Sankt-Florians-Prinzips sehen. Nehmen wir nur einmal an, eine Terroristenbande hätte unter den Augen des Verfassungsschutzes, sagen wir, zehn rothaarige Frauen umgebracht, eben weil sie rote Haare haben. Glauben Sie nicht, dass das öffentliche Interesse, genau zu wissen, was da eigentlich los war, größer wäre? Jedenfalls halte ich das Beispiel NSU für denkbar ungeeignet, um Qualitätsjournalismus zu illustrieren.
Lassen Sie trotzdem nicht nach in Ihrem Einsatz für guten Journalismus!
Beste Grüße,
Sandro Mattioli“