Stuttgart, 16.11.2011, Kontext: Wochenzeitung
Wer für das Jugendamt arbeitet, muss belastbar sein: Viele Menschen laden Ballast und Sorgen dort ab, dazu kommt die Angst, irgendetwas zu übersehen, irgendetwas falsch zu machen, mit der Folge, dass Kinder zu Schaden kommen. Das Amt tut zwar sehr viel, um dies zu verhindern. Doch die Sorge, dass doch einem Kind unter ihrer Zuständigkeit etwas angetan werden könnte, treibt die Mitarbeiter um. Teil zwei.
Wer für das Jugendamt arbeitet, muss belastbar sein: Viele Menschen laden Ballast und Sorgen dort ab, dazu kommt die Angst, irgendetwas zu übersehen, irgendetwas falsch zu machen, mit der Folge, dass Kinder zu Schaden kommen. Das Amt tut zwar sehr viel, dies zu verhindern. Doch die Sorge, dass doch einem Kind unter ihrer Zuständigkeit etwas angetan werden könnte, treibt die Mitarbeiter um.
Man kann Supervisionen machen, Besprechungen in der Gruppe, Besprechungen mit externen Experten, Vermerke schreiben, Vorgesetzte einschalten. Man kann die Papiere wieder und wieder lesen, noch einmal über den Fall schlafen oder hoffen oder beten. Aber eines kann man nicht: das wilde Tier Angst zähmen. Manchmal schläft es ruhig irgendwo im Hinterkopf, manchmal kratzt es leicht mit seiner Pranke an der Gehirnrinde, um zu sagen, ich bin auch noch da, vergiss mich nicht. Manchmal tobt es, ohne Gnade und unbeherrscht. Da ist es jedenfalls immer. Im Schnitt hält ein Kollege pro Jahr den Druck nicht mehr aus und gibt auf, sagt Johannes Schmitt-Althaus, bittet um Versetzung, will nicht mehr für das Jugendamt arbeiten. Schmitt-Althaus muss es wissen: Er ist zusammen mit einer Kollegin bei der Stuttgarter Stadtverwaltung für die 200 Mitarbeiter in den Beratungszentren zuständig.
Auch Hartmut Gerger kennt diese Angst. Es ist nicht so, dass sich der Sozialpädagoge ständig vor Augen führt, wie es wäre, plötzlich für die Misshandlung eines Kindes oder gar dessen Tod verantwortlich gemacht zu werden. Aber es ist eben auch nicht so, dass er es nicht tut. Das wilde Tier Angst, es schleicht zuweilen um jeden Mitarbeiter des Beratungszentrums Süd herum. Wenn Gerger erzählt, merkt man, dass er sich dessen stärker bewusst ist, als es ihm lieb ist.
Die Angst sei schon da, sagt er dann, und dass es schon gut sei, wenn mehrere Augen auf knifflige Fälle schauten, wie das im Jugendamt grundsätzlich der Fall sei. Es habe in der Vergangenheit schon Phasen gegeben, in denen es ihm schon nicht so gut ging, weil er viele komplizierte Fälle auf einmal hatte. Mit dem unscheinbaren Wörtchen „schon“ schiebt er die Härte dieser Sätze beiseite. Streicht man es, klingen sie anders. Und während er diese Sätze sagt, wird sein Blick ernst, verflüchtigt sich das Lächeln aus seinem Gesicht.
Jenny, zweieinhalb Jahre alt, misshandelt, im März 1996 gestorben
Er nehme grundsätzlich keine Arbeit mit nach Hause, sagt Hartmut Gerger. Manche Kollegen würden daheim schnell noch eine Notiz verfassen oder ein paar Dokumente lesen. Er nicht. Gerger schützt sein Zuhause vor den Problemen, lässt sie in seinem Büro. Das wilde Tier muss draußen bleiben. Gergers Haus gehört der Familie – nur der Familie, seiner Frau und den zwei Kindern. Abends liest er manchmal Comics, um sich zu zerstreuen. Oder schaut Filme, ganz bewusst zur Ablenkung. Asterix und Obelix mag er gerne. „Da ist klar: hier sind die Guten, dort die Bösen. Und am Ende bekommen die Römer eins auf die Mütze, und ein Fest wird gefeiert.“ Diese Einfachheit würde er sich auch für die Arbeit im Beratungszentrum wünschen. Er ist damit auch nicht allein. „Die Leute wollen einen Schuldigen präsentiert bekommen“, sagt er. Aber so einfach ist es nicht, denn die Aufgabe des Jugendamts ist eine andere. Es soll Veränderungen zum Guten herbeiführen. „Wir sind dazu da, Probleme zu lösen“, sagt Gerger. Nicht immer geht das gut.
FOTO Um sich von den anstrengenden Beratungsgesprächen zu erholen, um abzuschalten, liest Hartmut Gerger zu Hause gerne Comics.
Für viele Mitarbeiter in den zehn Beratungszentren in Stuttgart hat die Angst ein konkretes Gesicht. Es ist das von Jenny, einem Mädchen, zweieinhalb Jahre alt. Jenny war im März 1996 gestorben. Es war ein Fall, den die Mitarbeiter des Stuttgarter Jugendamts von Kollegen aus Norddeutschland übernommen hatten, nachdem die Mutter mit ihrem Kind umgezogen war. Die Staatsanwaltschaft nahm damals genau unter die Lupe, was vorgefallen war: Eine Mutter mit geringer Intelligenz, die ihr kleines Kind heftigst biss und gegen die Wand schlug; der Freund der Mutter, der die Kleine ebenfalls misshandelte; Freunde, welche Jenny betreuen sollten, aber die Kleine so heftig schüttelten, dass sie wenige Tage später starb – und ein norddeutscher Sozialarbeiter, der wichtige Informationen über diese Gefahren für die kleine Jenny nicht weitergegeben hatte.
Auch wie die Stuttgarter Betreuer vorgegangen waren, hatten sich die Staatsanwälte im Detail angeschaut. Am Ende wurde das Jugendamt und auch der für die Familie zuständige Stuttgarter Sozialarbeiter von jeder Schuld freigesprochen. Sein norddeutscher Kollege wurde mit einer Geldstrafe belegt – und die Angst in Stuttgart blieb.
Der Vorgesetzte geht mit in die Verantwortung
Das Stuttgarter Gericht stellte damals fest, dass das hiesige Jugendamt keine Fehler gemacht habe. Doch es sind Fälle wie dieser, die Hartmut Gerger und seinen Kollegen Angst macht. Sein Arbeitgeber, die Stadtverwaltung, hat nach dem Tod der kleinen Jennifer viel getan, damit sich so etwas nicht wiederholt. Ein bundesweit beachteter Kinderschutzbogen wurde entwickelt, mit ihm wird quasi die gesamte Lebensumwelt eines gefährdeten Kindes abgefragt und erfasst. Den Bogen wenden inzwischen viele Kommunen in ganz Deutschland an. Es bleibe aber immer ein Restrisiko, sagt Hartmut Gerger, egal, wie die internen Prozesse seien. „Als ich 1994 angefangen habe, im Jugendamt als Sozialpädagoge zu arbeiten, habe ich Berichte geschrieben, die sich der Bereichsleiter oft nur kurz oder gar nicht angeschaut hat“, berichtet Gerger. Das war damals in einer anderen Stadt. Heute, in Stuttgart, werde auch bei einem abschätzbaren Risiko der Vorgesetzte einbezogen. „Dann gehen wir beide ins Gefängnis“, sagt Hartmut Gerger, halb im Scherz, halb im Ernst.
In einer reichen Stadt wie Stuttgart mögen die Bedingungen besser sein. Das Beratungszentrum ist vor nicht allzu langer Zeit in ein modernisiertes Gebäude gezogen. Der Flur zu Hartmut Gergers Büro kann zwar nicht verbergen, dass er zu einem Amt gehört: unten der unvermeidliche Linoleumboden, oben Neonröhren, rechts und links Türen in gleichmäßiger Folge. Aber wer zum Eingang hereinkommt, blickt zunächst einmal auf große, lichte Glasflächen – und auf zwei Sekretärinnen dahinter, die die Besucher empfangen. Gleich neben dem Sekretariat: Kinderspielzeug. Am Ende des Ganges geht es links in Gergers helles Büro. Es ist modern eingerichtet. Seine Besucher sitzen ihm nicht am Schreibtisch gegenüber, sondern gleich neben der Tür um ein rundes Tischchen herum, mit Gummibären in einem Schälchen. Gerger bietet immer Wasser an. Nicht nur die Menschen hier sollen freundlich sein. Alles soll freundlich sein.
Auch in einer reichen Stadt wie Stuttgart gibt es jede Menge arme Menschen. Hartmut Gerger betont jedoch, dass nicht nur sozial Schwache ihre Kinder schlecht behandeln. Auch vermögende Familien landen immer wieder in der Registratur hinter seinem Schreibtisch, wo er seine Akten aufbewahrt. Soziale Verwahrlosung, Vernachlässigung der Kinder, Missbrauch in vielfältiger Form orientiert sich eben nur bedingt am Geldbeutel.
In Missbrauchsfällen werden Fachleute von außen hinzugezogen
Viele Fälle werden in der Teamsitzung besprochen, also mit allen Kolleginnen und Kollegen des Beratungszentrums. Das brauche zwar Zeit, sagt Gerger, gebe aber Sicherheit und immer wieder auch neue Lösungsansätze. Denn die Probleme, mit denen man im Jugendamt zu tun hat, sind komplex und nicht leicht zu durchdringen. Steht ein sexueller Missbrauch im Raum, wird zudem Unterstützung von außen hinzugezogen: ein sogenannter Hilfeprozessmanager. Das sind speziell geschulte Mitarbeiter aus anderen Dienststellen. Sie nehmen dann an den Fallbesprechungen teil, jedoch ohne detailliertes Vorwissen.
Die Hilfeprozessmanager überprüfen, ob tatsächlich alles richtig gemacht worden ist oder ob es irgendwo Versäumnisse gab. Mit am Tisch sitzt dann neben der Bearbeiterin oder dem Bearbeiter des Falls die Leitung des Beratungszentrums, im Fall von Stuttgart Süd ist das Ömer Aykut. Dazu die Sozialarbeiter, die mit der betroffenen Person zu tun haben. Hilfeprozessmanager können dank ihres Blicks von außen oft wertvolle Anregungen geben.
FOTO
Auch Hartmut Gerger hatte einmal einen Fall intensiv mit seinen Kollegen durchgesprochen. Es ging um die Frage, ob ein Kind aus einer Familie genommen werden sollte oder nicht. Was passiert sei, sagt Gerger, habe zwar nichts mit dem Fall zu tun gehabt, und er habe sich deshalb eigentlich auch nichts vorzuwerfen. Man sieht ihm dennoch an, dass es ihn heute noch erschüttert. Er lässt seine Hände auf den Tisch sinken, sein Blick verengt sich, seine Stimme wird tiefer. Schrecklich war es. Ein Mädchen zündelte, ihr Kinderzimmer geriet in Brand. Die Zündlerin wurde gerettet, die Eltern ebenso. Doch ihre Schwester verbrannte. Das hat Gerger sehr lange beschäftigt. „Ich kannte die Eltern, ich kannte die zwei Mädchen, da entstehen Verbindungen, wenn auch oberflächliche“, erklärt er. „Man fühlt sich für die Kinder verantwortlich.“ Noch heute, einige Jahre später, erkundigt sich Gerger regelmäßig nach dem Kind. Es lebt jetzt in einer Pflegefamilie. Und es geht ihm gut.
Gewalt und psychische Erkrankungen in den Familien – das Restrisiko
Für solche Fälle bietet die Stadt Stuttgart Supervisionen an, Gespräche mit Experten, in denen die Mitarbeiter das Erlebte aufarbeiten können. Doch das Ganze mitmachen, das Ganze durchleben müssen sie selbst, müssen sie letztlich alleine. Die Selbstvergewisserung, alles richtig gemacht zu haben, lässt das wilde Tier Angst zwar ein paar Schritte zurückweichen. Doch die Gedanken, die es wieder anlocken, es geradezu vor Lust im Kreis springen lassen, diese Zweifel sind oft stärker: Hätte ich etwas erkennen müssen? Habe ich ein Anzeichen übersehen? Trage ich Verantwortung? Auch Hartmut Gerger hat sich das wieder und wieder gefragt, obwohl er genau weiß, dass er damals nichts falsch gemacht hat, dass er keine Schuld trägt, dass er nichts dafür kann oder dagegen hätte tun können. Nur: am Ende bleiben die Fakten – in einer Familie unter seiner Zuständigkeit ist ein Mädchen gestorben.
Das wilde Tier Angst hat einen Namen, einen technischen Namen, aber letztlich geht es genau darum: Es heißt Restrisiko. Jeder Mensch weiß, dass es die totale Sicherheit nicht gibt, nicht geben kann. Dennoch wird genau das von Hartmut Gerger und seinen Kollegen und Kolleginnen erwartet. Es darf kein Kind zu Schaden kommen – oder gar ums Leben. Das Restrisiko ist im Jugendamt keine abstrakte Größe, sondern Teil der täglichen Arbeit. Die Mitarbeiter des Jugendamts müssen permanent unterschiedliche Optionen gegeneinander abwägen, müssen permanent Entscheidungen treffen, kurzum, Fehler können vorkommen. Dürfen aber nicht, die Behörde muss perfekt funktionieren.
Fünf- bis sechstausend Kinder kommen pro Jahr in Stuttgart auf die Welt. Um das Schicksal von rund hundert Kindern und Jugendlichen kümmert sich Hartmut Gerger neben seiner sonstigen Arbeit. Erklärt er, wie er das tut, greift er häufig zu dem Wort Restrisiko. „Bei den Familien, die bei uns aufscheinen, spielt häufig Gewalt eine Rolle oder eine psychische Erkrankung“, sagt er beispielsweise, „daher gibt es stets ein gewisses Restrisiko.“ Und wenn er aus dem Wochenende zurückkommt und einen Zettel vorfindet, er solle die Sozialarbeiterin anrufen, durchzuckt ihn ein Schreck. „Ich habe das Wochenende über zwar nicht die Sorge, dass ein Kind totgeschlagen werden könnte, oft aber ein ungutes Gefühl, weil es manchen nicht gut geht. Wenn ich dann am Montag so einen Zettel vorfinde, denke ich doch, hoffentlich ist nichts passiert.“
„Manchmal bin ich neidisch auf Kfz-Mechaniker“
Es ist ein Dilemma: Im Jugendamt muss man sich gut in seine Mitmenschen einfühlen können – aber auch Abstand halten können. „Wenn einen die Fälle in die Freizeit verfolgen, dann bleibt man nicht lange in diesem Beruf“, sagt Gerger leise. Man darf aber auch nicht abstumpfen. Viele Mitarbeiter seien sehr sensibel, sagt Gerger. Er selber dürfte auch dazu zählen, wenngleich es nicht allzu sehr den Anschein hat. „Hier arbeiten weniger Menschen, die die Ellenbogen ausfahren. Und viele neigen dazu, das alles an sich ranzulassen.“
Manchmal wünscht Hartmut Gerger sich, dass sein Beruf einfacher wäre. „Manchmal bin ich neidisch auf Kfz-Mechaniker“, sagt er und grinst vorsichtig. Da kämen Kunden in die Werkstatt, berichteten von einem komischen Geräusch, das man beheben müsse, und danach seien alle glücklich. „In gewisser Weise sind auch wir ein Reparaturbetrieb“, sagt Gerger über sich und seine Kollegen, „aber die Prozesse dauern lang.“
Meistens sind diese Prozesse in sogenannte Kontraktgespräche gegliedert. Alle drei Monate treffen sich die Beteiligten – also Hartmut Gerger, die entsprechenden Sozialarbeiter sowie die Eltern mit ihren Kindern – und sprechen über die Situation: was besser geworden ist, was schlechter, und welche Ziele sie alle haben. Das wird dann in ein Formular eingetragen und nach drei Monaten wieder gemeinsam besprochen. Dieser Bogen landet schließlich in den Akten. Neue Besucher, ein neues Problem. „Im nächsten Gespräch haben wir den nächsten schweren Fall, dann ist der vorhergehende Fall weg“, sagt Gerger. Das wilde Tier Angst aber, das bleibt.