Auch in unseren aufgeklärten Zeiten sind Wunderheiler begehrt. Wissenschaftler arbeiten daran, ihre Erfolge zu erklären – doch vieles bleibt rätselhaft.
Littau, März 2010, Bild der Wissenschaft
Ruhig sitzt er an dem breiten Eichentisch, freundlich blickt er drein beim Erzählen. Manchmal holpert ein Lachen aus ihm heraus. Welches Klischee man auch immer mit einem Heiler verbindet, zu Roman Grüter passt es nicht. Den Mann mit dem rundem Gesicht, den kurzen grauen Haaren und der filigranen Drahtbrille umweht nichts Mystisches.
In seiner hellen, klaren Wohnung im schweizerischen Littau, nahe Luzern gelegen, wabern keine Nebel, keine geheimnisvollen Düfte schweben in der Luft. Engelsfiguren schenken Ruhe, ein Kruzifix hängt an der Wand. Es ist die ganz normale Wohnung eines katholischen Priesters.
Der Heiler Grüter bekommt Tausende E-Mails und Anfragen pro Jahr. Er sagt, er habe bereits Leukämiekranke, Migräniker und Depressive geheilt. In seinem Rücken steht eine mächtige, mit theologischer Fachliteratur vollgestellte Bücherwand. Das Bild ist symbolisch für die schwierige Beziehung zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen. Vorne der Heiler, der anderen die Hände auflegt und so für Besserung sorgt, dahinter die Wissenschaft. Und dazwischen ein Spalt, der sich kaum überwinden lässt. Die Forschung tut sich mit dem Thema Wunderheilung schwer. Das Wunder ist widerborstig, wenn sich die Wissenschaft an ihm zu schaffen macht: Wie kann die Wissenschaft, die erklären will und soll, das Unerklärliche beschreiben? Wie lässt sich eine Theorie schaffen für etwas, das nur Praxis ist? Das keinen Regeln gehorcht? Seit von Wunderheilungen berichtet wird, gibt es auch Berichte von Kritikern. Selbst der Heiler Grüter zweifelt: „Ich wundere mich inzwischen nicht mehr darüber, dass ich diese Fähigkeit habe. Aber ein rationaler Vorbehalt bleibt“, sagt er.
Eine alte Wortdefinition besagt, das Wort Wunder komme vom althochdeutschen „wuntar“, also von winden, umdrehen: das Wunder als verkehrte Welt, als das vom natürlichen Lauf Abweichende. Eine weitere Erklärung bezieht sich auf das gotische „vunan“, was soviel heißt wie „sich erfreuen“. Bei der Wunderheilung finden beide Wortbedeutungen zusammen. Aber Roman Grüter hat Vorbehalte gegen das große Wort „Wunderheiler“: „Ich bin ein Heiler, meinetwegen ein spiritueller Heiler.“
Nach neueren Erkenntnissen scheint eine „unerwartete Heilung“, so eine vorsichtige Hypothese, vor allem bei Tumoren häufiger vorzukommen als bislang angenommen. Sie gilt bei Medizinern aber nicht als Wunder, sondern als eine mögliche Form des natürlichen Krankheitsverlaufs. In der medizinischen Forschungsliteratur sind zahlreiche Spontan- und Wunderheilungen dokumentiert. Die erste Fallsammlung stammt aus dem Jahr 1918, mehrere folgten im Lauf der Jahrzehnte.
KÖRPEREIGENE HEILKRÄFTE
Die amerikanische Biochemikerin Caryle Hirshberg hat das Thema seit mehr als zwanzig Jahren auf der Agenda. Der Krebsforscherin war aufgefallen, dass spontane Heilungen in der Forschung vernachlässigt werden – obwohl man aus ihnen wertvolle Einsichten in den Vorgang bekommen könnte. Hirshberg hat in der Folge eine umfassende Bibliografie zur Forschung über Spontanheilungen erstellt. In den 1990er-Jahren interviewte sie zudem 50 Krebskranke, die vor dem Tod gestanden hatten, dann aber doch wieder gesund geworden waren – ohne dass Mediziner es erklären konnten. Die Forscherin achtete auf die psychosozialen Faktoren bei den Genesungen: Gab es Eigenschaften in der Persönlichkeit der Kranken, die eine Heilung förderten? Welche Rolle nahm das soziale Umfeld ein?
Hirshberg schloss aus den Aussagen der Befragten, dass die Anwesenheit eines vertrauten Partners eine Spontanheilung fördern kann. Außerdem sei es hilfreich, wenn die Erkrankten positive genauso wie negative Gefühle ausdrücken können. Neben der eigentlichen Krebstherapie seien körpereigene Kräfte für die Heilung mitverantwortlich, meint die Forscherin. Die Geheilten seien „mit etwas in Berührung gekommen, was für sie wesentlich ist“, sie hätten „Zugang zum innersten Kern ihrer Persönlichkeit“ gefunden. Doch sie erhielt für diese Thesen eher Gehör in esoterischen Kreisen als in der wissenschaftlichen Fachwelt.
Inzwischen gibt es einige neue Ansätze, wie das Unerklärliche aus Sicht der Medizin erklärbar wird. Wesentlich dazu beigetragen hat die Psychoneuroimmunologie, eine recht junge Disziplin. Früher dachte man, das Immunsystem arbeite autonom. Heute weiß man, dass es mit der Psyche und dem Nervensystem interagiert (siehe Grafik auf der rechten Seite). Zwischenmenschliche Beziehungen spielen mit hinein. Joachim Bauer, Psychoneuroimmunologe an der Universität Freiburg, beschreibt in seinem Buch „Das Gedächtnis des Körpers“, dass die Beziehungs-Erfahrungen vom Gehirn evaluiert und dann in biologische Signale in Form von Botenstoffen umgesetzt werden. Diese Botenstoffe regeln die Aktivität einiger Gene und wirken sich so auf die Gesundheit aus. „Ich glaube natürlich nicht an Wunderheilungen“, sagt Bauer. „Alles hat eine biologische Basis.“
STRESS SCHADET DEM IMMUNSYSTEM
Das Stress-Hormon Cortisol spielt dabei eine wichtige Rolle. Über einen komplexen Regelkreis greift es vielfältig in die Immunantwort ein. Psychosozialer Stress wirkt sich direkt auf die Gen-Aktivität aus – mit entsprechenden Folgen: Bei einsamen Menschen etwa fanden Stressforscher einen erhöhten Cortisol-Gehalt im Blut, die Aktivität von T-Zellen und Natürlichen Killerzellen war auffallend reduziert und damit das Heer des Immunsystems im Kampf gegen Krankheiten geschwächt (siehe auch den Beitrag „Vorsicht, Beipackzettel!“). Weicht die Einsamkeit, arbeitet das System wieder besser. Eindrucksvoll ist ein weiteres Forschungsergebnis: Der Botenstoff NF-kb spielt eine große Rolle bei Erkrankungen, auch bei Krebs. In seiner gesamten Bedeutung ist der Stoff noch nicht erforscht. Doch Wissenschaftler vermuten, dass über Psychotherapien seine Aktivität beeinflusst werden kann. Ein Ansatz für eine Erklärung der Wunderheilung könnte also sein: Schafft es der Heiler, den von der Krankheit verursachten psychischen Stress zu beseitigen, steigen die Chancen auf Heilung.
Grüter legt den Menschen, die zu ihm kommen, nach ausführlichen Gesprächen die Hände auf, dort, wo er „Blockaden der Energiefelder vermutet“. Das mache er, bis sich beim anderen etwas öffne. „Das spüre ich“, sagt Grüter. „Das Handauflegen gibt dem Körper einen Freiraum, eine Möglichkeit, selbstheilend zu wirken. Heilung ist immer Selbstheilung“, sagt er. Grüter argumentiert damit ähnlich wie die Psychoneuroimmunologen. Und was entgegnet er seinen Kritikern, die ihm Scharlatanerie vorwerfen? „Ja wenn das so wäre, wieso kommen dann so viele zu mir?“ Er erlebe doch tagtäglich, dass die Leute ohne Schmerzen von ihm gingen. „Wie soll das Quatsch sein?“ Eine Heilungsstatistik führt er jedoch nicht.
Dabei stehen er und seine Kollegen durchaus unter wissenschaftlicher Beobachtung. Vor allem zur Fernheilung, also dem Gesundbeten über Entfernungen hinweg, sind Studien erstellt worden. Allerdings ohne eindeutiges Ergebnis, wie der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven von der Universität Erlangen schreibt: „Tatsache ist, dass ihre Ergebnisse widersprüchlich sind: Sie reichen von einem signifikanten Nutzen der Fernheilung über keine messbaren Effekte bis hin zu signifikantem Schaden.“
Roman Grüter ahnte schon immer, dass mit ihm irgendetwas anders ist. Als Kind sah er Lichter im Wald, wo keine waren. Schon damals wollte er Priester werden. Später, als ihn Herzschmerzen und andere Leiden plagten, sagte ihm sein Heilpraktiker, er habe die Fähigkeit zu heilen und müsse sie nutzen. Daher rühre seine Krankheit. Grüter hatte in seinem Studium das wissenschaftliche Denken gelernt. Dennoch versuchte er sich als Heiler, zaghaft zwar, aber erfolgreich. Das war im Jahr 2000. Inzwischen hilft Grüter sogar autistischen Kindern. „Ich behandle zurzeit einen Jungen. Wenn man mit dem spricht, merkt man kaum mehr, dass er ein Autist ist. Früher hat der kein Wort geredet“, sagt er. Der 54-jährige Priester empfängt täglich mehrere Patienten. Er gibt Kurse, bietet wöchentliche Heilgottesdienste an und vermittelt seine Erfahrungen weiter. Und er profitiert selbst von seiner Kunst. „Ich bin kaum mehr krank“, sagt er, „vielleicht einmal eine leichte Erkältung.“
Grüter erzählt, dass es in der Schweiz viele Heiler gibt: Bauern, die diese Fähigkeit an sich entdeckt haben, Heilpraktiker, alle möglichen Menschen. Wunderheiler gab es eigentlich immer: in allen Religionen, in allen Kulturen kamen sie vor. Selbst frühzeitliche Höhlen-Felsbilder werden so interpretiert. Der Schamane dürfte die Urform des Heilers sein, diese Erscheinung gab es schon vor Jahrhunderten bei Naturvölkern. Der Begriff „Schamane“ ist indes nicht besonders alt. Der erste Beleg stammt aus einem Reisebericht von 1707 von dem Kaufmann Everet Yssbrant Ides, der im Auftrag von Peter dem Großen als Diplomat nach Peking gereist war.
Andere Berichte handeln etwa von Heilern in Sibirien, Brasilien und auf den Philippinen. Das Werfen von Tierknochen in Afrika hat sogar Wurzeln in der griechischen Antike. Die Medizinmänner der Ronga, die im heutigen Mozambique leben, werfen, wenn sie um Rat gefragt werden, Knochen auf den Boden. Die Knochen nennen sie Astragali. Das griechische Wort bezeichnete in der Antike geschnitzte Knochenwürfel. Bei Heilern sind die merkwürdigsten Vorgehensweisen zu beobachten, manche arbeiten mit Magneten oder Urin.
Trotz der bisweilen bizarren Umstände: Der Wunderglaube floriert. Die Mediävistin Gabriela Signori von der Universität Konstanz hat das Phänomen Wunder quer durch die Geschichte verfolgt. Sie betont, dass keineswegs nur irrationale Mittelalter-Menschen an Wunder glaubten, sondern dass die Wundergläubigkeit in der Moderne mit ihren aufgeklärten Menschen beliebter sei denn je. Selbst die Schulmedizin hat sich alternativen Behandlungsmethoden etwas geöffnet, etwa die Akupunktur integriert, die möglicherweise nur über einen Placebo-Effekt wirkt (siehe den Beitrag „Die Heilkraft des Nichts“). Damit wird ein Spalt kleiner, der eine lange Vorgeschichte hat: Die hippokratische Schulmedizin ist einst (ab dem 4. Jahrhundert v.Chr.) in Griechenland und Kleinasien als Gegenpol zum Kult des Heilgotts Asklepios entstanden.
HANDAUFLEGEN WIE JESUS
Auch die christliche Kirche ist von Beginn an mit Heilriten verbunden gewesen: Jesus trat vielfältig als Heiler auf, später folgten ihm die Apostel und Jünger, dann Bischöfe und Priester und schließlich auch Diakone. Sie alle vermochten bereits zu Lebzeiten Wunderheilungen zu bewirken, in erster Linie durch Handauflegen wie ihr Meister Jesus. Die frühen Christen übernahmen Heilriten vom Asklepios-Kult. Dieser war in der Antike nicht der einzige Heilkult, wohl aber der für die Christen bedeutendste. Ende des vierten Jahrhunderts, als das Christentum Staatsreligion wurde, wechselte das religiöse Bezugssystem endgültig. Viele Tempel wurden durch Kirchen ersetzt. Christliche Heilige, etwa die Ärztebrüder Cosmas und Damian, traten an die Stelle der griechischen Götter. Lange Zeit war vermutet worden, dass der Übergang von den griechischen Heilriten zu den christlichen abrupt vonstatten ging. Doch inzwischen weiß man, dass es anders war. Beispielhaft dafür kann die große christliche Kirche aus dem vierten oder fünften Jahrhundert in der Hafenstadt Dor, an der Mittelmeerküste Israels, stehen. Sie war auf einem früheren Asklepios-Tempel gebaut worden. Das eigentliche Tempelgebäude und sein Altar waren zwar abgebrochen worden. Die seitliche Halle aber, die man zuvor für den rituellen Heilschlaf genutzt hatte, blieb erhalten, ebenso wie der Heilschlaf selbst als zentrales Element der Heilung.
Theologen können – wie Altertumswissenschaftler auch – Wunderheilungen einfach als gegeben nehmen, als Gottes Werk. Der Jesuitenpater Peter Gumpel ist dennoch skeptisch, von Berufs wegen. In seinem Büro in Rom liegen die Wunder stapelweise auf dem Schreibtisch. Der Zweifel liegt unsichtbar daneben. Wer vom Papst selig gesprochen werden soll, muss ein Wunder bewirkt haben, und genau darüber befindet die Kommission, für die Gumpel arbeitet.
DIE WUNDER-KOMMISSION
Der hagere Priester ist inzwischen 86 Jahre alt und seit fast fünf Jahrzehnten damit beschäftigt, im Auftrag des Vatikans Berichte von Heilungen zu sichten. Er ist ein überaus rationaler Mensch von zurückhaltender Freundlichkeit. Die Ausstattung seines Büros ist karg, doch es bietet den größten Luxus, den man in Rom haben kann: Zum offenen Fenster zwitschern die Vögel im Garten herein. An Wunderheilungen lege die Kommission hohe Maßstäbe an, sagt er: „Bei den Fällen, mit denen wir befasst sind, handelt es sich ausschließlich um organische Heilungen.“ Nervenerkrankungen sind ausgeschlossen. Heilungen an Pilgerorten wie dem französischen Lourdes und dem portugiesischen Fatima sieht Gumpel ebenfalls kritisch: Meist seien sie nicht ausreichend dokumentiert.
Seine Kommission fordert zunächst alle möglichen Dokumente an, Röntgenaufnahmen etwa und medizinische Berichte. Diese Dokumentation werde hochqualifizierten Ärzten zur Begutachtung vorgelegt. „Wir fragen sie dann, ob die Heilung medizinisch erklärbar ist. Ob es sich dabei um ein Wunder handelt, fällt nicht in ihr Aufgabengebiet.“ Ist diese Hürde genommen, befinden weitere Gremien über den Fall, bevor die Akte dem Papst vorgelegt wird.
Manche Heilungen konnte Pater Gumpel selbst kaum glauben, etwa die eines polnischen Jungen mit Verbrennungen bis auf die Knochen. Er kam ins Krankenhaus, wo Freunde das Bild eines Heiligen, den sie um Genesung baten, auf den Verband legten. Am nächsten Morgen, sagt Gumpel, sei die Brandverletzung verheilt gewesen. Keine Narben, nichts sei zurückgeblieben. Wer Zweifel hat: Medizinern steht die ärztliche Dokumentation solcher Heilungen offen. Doch sie werden wohl ein Rätsel bleiben. Solange man die genauen Hintergründe nicht kennt, sind Wunderheilungen einfach Wunder. Oder, wie Karl-Heinz Leven sagt: „Ein Wunder ist das, was man dafür hält.“