In Karlsruhe wurde gestern das Hauptverfahren eines Prozesses eröffnet, das für mich persönlich eine Zäsur im deutschen Rechtswesen darstellt. Denn es ist wohl noch nie zuvor hier passiert, dass (mutmaßliche) Mafiosi im Gerichtssaal Drohungen äußern, und das auch noch in Form eines Statements ihres deutschen Anwalts. Und vor allem: Niemandem ist das auch nur aufgefallen. Was ist passiert?
Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Konstanz richtete sich gegen einen deutsch-italienischen Drogenhändlerring. Sowohl in Sizilien wie auch in Süddeutschland liefen Ermittlungen, die in Deutschland zu Anklagen gegen elf Personen führten. Vier Haupttäter müssen sich vor dem Gericht verantworten (das aus Platzgründen die ersten zwei Prozesstage in den Schwurgerichtssaal des Karlsruher Landgerichts verlegte, bis ein eigens umgebauter Firmenraum in Konstanz genutzt werden kann). Die vier Haupttäter sind ein in Italien lebender Italiener und drei Männer, die im Raum Süddeutschland zuhause sind. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, viele Dutzend Kilo Marihuana und auch Kokain nach Deutschland importiert und damit gehandelt zu haben. Einer der Männer hat den Ermittlungen zufolge zudem auf den hell erleuchteten Gastraum eines Kontrahenten geschossen, während dieser Kontrahent sich dort mit unbeteiligten Gästen aufhielt, welche die Kugeln nur knapp verfehlten. Auch Waffenschmuggel und -handel findet sich unter der Liste der Anklagepunkte.
Im Vorfeld dieser Eröffnung des Hauptverfahrens gab es verschiedene Berichte in Zeitungen, in denen von mutmaßlichen Mafiosi die Rede war. In einer Pressemitteilung war zuvor berichtet worden, dass es Verbindungen von den Angeklagten zur sizilianischen Cosa Nostra und zur kalabrischen ’ndrangheta gebe. Ich persönlich vermute, dass nicht alle Angeklagten der Mafia zugehörig sind, schließe es aber auch nicht aus. Und mehrere Journalisten, darunter auch ich, sprachen von einem Mafia-Prozess.
Nachdem der Staatsanwalt die Anklageschrift verlesen hatte, gab der Richter den Rechtsanwälten Gelegenheit, sich zu äußern. Der Anwalt eines Angeklagten, der als Kopf der Drogenbande gilt, setzte zu seinem Vortrag an. In Sizilien gebe es ein altes Sprichwort, sagte der Mann, es besage, dass wer nichts sehe, nichts höre und nichts sage, hundert Jahre alt werde. Der Richter rief zur Pause, ohne dass vonseiten des Anwalts weitere Ausfertigungen kamen, diese sollten erst nach der Pause ergehen. Offensichtlich war kaum jemandem bewusst geworden, was in diesem Moment geschehen war. Denn auch als der Anwalt nach der Pause sein Statement fortführte, gab es zu diesem Satz keine Fragen.
Im weiteren Verlauf kritisierte der Rechtsanwalt das Verfahren als aufgeblasen und wies weit von sich, dass die Angeklagten etwas mit der Mafia zu tun hätten. Der Mafia-Vorwurf käme einer Vorverurteilung gleich.
Sein Vorgehen ist in mehrerlei Hinsicht beachtlich: Zum einen spielt die Mafia-Zugehörigkeit im deutschen Strafrecht keine Rolle und damit auch nicht in dieser Hauptverhandlung. Es gibt im deutschen Strafrecht die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation. Diese war zum Beginn der Ermittlungen zu dem Drogenhandelsring quasi unmöglich nachzuweisen (wie die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage der Grünen-Abgeordneten Irene Mihalic nach vielen Jahren im August dieses Jahres allgemein auch eingestehen musste). Es gab im Vortrag des Staatsanwalts weder einen Verweis auf eine Mafia-Zugehörigkeit irgendeines Angeklagten noch auf die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Es ging um bandenmäßigen Rauschgifthandel, was ein wesentlicher Unterschied in der Anklage ist. Der erste, der in diesem Hauptverfahren das Wort Mafia in den Mund genommen hatte, war dieser Anwalt.
Zum anderen zeugt es von gewaltiger Chuzpe, den (nicht erhobenen!) Vorwurf der Mafia-Mitgliedschaft abzustreiten und dabei auf Mafia-Methoden zu rekurrieren. Denn was anders ist dieser Satz wenn nicht ein Verweis auf die Omertà, das Schweigegelübde der Mafia? Es ist eine typische Verklausulierung, wie sie Mafiosi gerne einsetzen. Heißt der Satz doch: Wer sieht, hört und darüber redet, wird keine hundert Jahre alt, sprich, er oder sie lebt gefährlich.
Man sah es an den Reaktionen, dieser Satz wurde als Folklore gesehen, als halbwegs amüsanter Rekurs auf Mafia-Klischees. Doch dem ist mitnichten so. In einem Gerichtsverfahren, dessen Ausgang wesentlich davon abhängt, dass Zeugen belastende Aussagen tätigen, muss man von den Prozessbeteiligten die Sensibilität erwarten können, Einschüchterungsversuche schon im Ansatz zu unterbinden. Dies auch allein schon im Interesse der anwesenden Medienvertreter, denen diese Aussage genauso gelten kann: Schreibt nicht über die Mafia, und ihr werden hundert Jahre alt.
Dass dies keine Fantastereien sind, zeigen nicht nur die Todesdrohungen gegen Roberto Saviano und viele andere Journalisten, die die Untaten der Clans aufdeckten und nun von der Polizei geschützt werden müssen. Sondern das zeigen auch die folgenden Personen: Beppe Alfano, Carlo Casalegno, Mauro de Mauro, Cosimo Cristina, Giuseppe Fava, Mario Francese, Peppino Impastato, Mauro Rostagno, Giancarlo Siani, Giovanni Spampinato und Walter Tobagi. Sie alle wurden wegen ihrer Arbeit ermordet. Von Mafiosi. Die zahl der getöteten Belastungszeugen ist noch viel größer. Dass ein Rechtsanwalt mit einem solchen Statement einen Mafia-Kontext andeutet und sich zum Büttel von Kriminellen macht, dass ein Rechtsanwalt in einem Statement den Journalisten droht, ja nicht die Angeklagten als Mafia-Verdächtige zu bezeichnen und zugleich sagt, er schätze die Arbeit der Presse, das überfordert mein Verständnis dessen, was in einem deutschen Gerichtssaal möglich sein sollte.
Dieser Satz ist auch ein weiterer Versuch, es noch schwerer zu machen, über das Thema Mafia öffentlich zu sprechen. Das Dilemma ist einfach: Es gibt in Deutschland keinen Straftatbestand der Mafia-Zugehörigkeit. Wohl aber kann man jemanden wegen Diffamierung verklagen, der einen als Mafioso bezeichnet.
Es spielt in diesem deutschen Strafverfahren dummerweise keine Rolle, dass italienische Ermittlungen ergeben haben, dass das nach Deutschland importierte Marihuana auf Sizilien von einem Clan der Cosa Nostra produziert worden ist. Es spielt in diesem deutschen Verfahren auch keine Rolle, dass man mit Kokain im Kilogrammbereich aus Kalabrien nur handeln kann, wenn man Kontakte zur ’ndrangheta hat. Es spielt im deutschen Gerichtsverfahren wahrscheinlich auch keine Rolle, dass die Haupttäter Drogenlieferungen nach Deutschland in Sizilien und Kalabrien abstimmten und nicht, sagen wir, in Toulouse und Kopenhagen. Es spielt sicher auch keine Rolle, dass die Verwandten mancher Angeklagten als Mafiaangehörige bekannt sind. Das kann man finden wie man mag.
Dass man aber über das Thema Mafia nur noch abstrakt sprechen kann, das ist brandgefährlich. Dass platte Einschüchterungen im Mafia-Stil quasi von der Kanzel weg geäußert werden, das ist ein lautes Alarmsignal, das sollte eine Rolle spielen. Dass hier demokratische Grundwerte aufs Tiefste missachtet werden, das sollte eine Rolle spielen. Denn es geht hier doch um Werte, die wir gerade gegen Kriminelle verteidigen müssen: eine freie Presse etwa und dass ein fairer Prozess in diesem Land gewährleistet ist.
Wenn wir aber im Gerichtssaal nicht in der Lage sind, mafiöse Zeichen zu erkennen, wie soll es dann erst „draußen“ klappen.
PS: Wie wäre es denn, wenn die Angeklagten im Prozess öffentlich erklären würden, dass sie mit der Mafia nicht nur nichts zu tun haben, sondern diese Organisationen ablehnen? Oder wenn sie in ihren Restaurants mafiafreie Produkte, etwa von Libera oder der Cooperativa Goel, verkaufen würden? Oder in der Öffentlichkeit sagen, dass sie Antimafia-Organisationen wie Libera terra, Addio Pizzo und viele andere in Italien und mafianeindanke in Deutschland unterstützen? Dann wäre doch viel glaubwürdiger, dass die Angeklagten keine Mafiosi sind…
Anmerkung:
Meine geschätzte Kollegin Margherita Bettoni und ich werden diesen Mafiaverdächtigen-Prozess intensiv begleiten. Der erste Tag hat uns verdeutlicht, dass eine genaue beobachtung dieses Verfahrens dringend geboten ist. Wenn Sie uns dabei finanziell unterstützen möchten, sind wir ihnen sehr dankbar. Die Reise- und Unterkunftskosten sind beträchtlich. Wir werden in Kürze eine Finanzierungsmögichkeit bereitstellen.