In Pozzallo auf Sizilien gehen die Einheimischen zu den Beerdigungen der ertrunkenen Flüchtlinge. Der Bürgermeister gibt sogar sein bestes Leintuch, ein Hochzeitsgeschenk, für die Toten.
Pozzallo, Sizilien, Oktober 2014, Das Magazin
Es sind anstrengende Tage derzeit. Im Rathaus von Pozzallo, einem Städtchen ganz im Süden von Sizilien, stehen die Leute Schlange, denn Luigi Ammatuno, ihr Bürgermeister, wird in der Nacht für zwei Wochen zu den nach New York ausgewanderten Mitbürgern fliegen. Ein Mann lässt im Zorn die Tür knallen; er warte seit drei Stunden, tobt er, seit acht Uhr am Morgen, und noch immer sei er nicht an der Reihe. In der Gemeinde herrscht zudem Streit über den Haushalt, ein dickes Minus steht im Buch. Und die Staatsanwaltschaft ermittelt sowohl gegen den vorhergehenden Bürgermeister wie auch gegen den aktuellen Chef der Stadtpolizei wegen Untreue, Betrug und anderer Delikte. Doch all das ist es nicht, was Virginia Giugno verfolgt. „Ich bin müde“, sagt sie leise, und stützt ihren Kopf mit beiden Händen auf die Lehne eines Stuhls im Sitzungssaal auf. „Ich halte diese Normalität einfach nicht mehr aus.“
Mehr als 24 000 Migranten landeten bisher in diesem Jahr allein in Pozzallo an, das macht einen Schnitt von mehr als 2000 Personen pro Monat. Eine monströse Zahl, bedenkt man, dass die Stadt lediglich 19 000 Einwohner hat. Viele überlebten die Überfahrt nicht, 70 Leichen wurden nach Pozzallo gebracht, die Gemeinde musste einmal den Kühl-Anhänger eines Lastwagens zum Leichenhaus umfunktionieren, um der Situation Herr zu werden. Für das gesamte Mittelmeer rechnen die Vereinten Nationen mit rund 3000 Toten, aber so genau weiß das niemand. Mehrere tausend Kinder kamen ohne Begleitung. Oft haben die Kleinen Dramatisches erlebt, brauchen eine intensive Betreuung. Das ist die Normalität, von der Virginia Giugno spricht.
Erst am Tag vor diesem Gespräch hat sie das letzte Kind, das ohne Eltern kam, in Obhut geben können. 48 Jahre ist sie alt, aber sie wirkt jünger mit ihren kruseligen dunklen Haaren. Seit zwei Jahren arbeitet sie als rechte Hand des Bürgermeisters, dazu ist sie Mitglied des Katastrophenschutzes. Sie sagt, sie kümmere sich um Migranten, seit sie in ihre Stadt kommen, also quasi schon immer. Eigentlich könnte sich Giugno an die Situation gewöhnt haben, an die „Normalität“. Doch vor allem die Minderjährigen, die alleine über das Meer fahren, fordern sie, denn es werden mehr und mehr. Die Frau lacht immer noch gerne; angenehm und einnehmend ist dieses Lachen. Ihr Blick aber bleibt ernst dabei. Virginia Giugno ist am Ende ihrer Kräfte.
Sie macht ihre Arbeit mit ganzem Herzen, doch das Herz hat einen großen Nachteil: Es nimmt sich wichtiger als Kopf und Bauch. Und es kennt keine Müdigkeit. Deshalb wird Virginia Giugno eine halbe Stunde später an die Tür des Bürgermeisters, der sein Büro direkt neben dem ihren hat, klopfen, so wie sie es immer tut, und wird auf ihren Verstand hören, was sie nicht so oft tut. Sie wird ihrem Chef sagen, dass sie mit sofortiger Wirkung ihre Ämter niederlegt. „Mamma Virginia“, wie sie die Kinder oft gerufen haben, Mamma Virginia wird dann Vergangenheit sein – nur nicht für sie selbst. Bei einem Treffen Tage später wird sie ihr Handy aus der Tasche holen und mit Wehmut die Bilder zeigen, die ihr ihre Jungs schicken, immer noch, selbst Monate, nachdem sie sie in gute Hände gegeben hat.
Pozzallo zieht sich mehrere Kilometer die Küste entlang, die Häuser sind niedrig, manche mit reicher barocker Verzierung wie das elegante Rathaus, die meisten eher ärmlich. Schon früh landeten hier Handelsschiffe an, um Frischwasser an Bord zu holen. Deshalb ist die Stadt auf Schiffskarten aus dem 15. Jahrhundert verzeichnet, ihr Name bedeutet „Quelle am Meer“. Es ist eigentlich ein Fischerstädtchen. Inzwischen lohnt es sich für die Männer der Stadt jedoch kaum mehr, am Morgen aufs Wasser hinauszufahren: die Fischgründe sind leergefischt, die Fischer an einer Hand abzuzählen. Die See nährt die Menschen der Stadt jedoch immer noch, selbst wenn sich neben den angestammten Obst- und Gemüsebauern ein paar Industriebetriebe angesiedelt haben: Viele Männer verdienen nun auf Kreuzfahrt- und Handelsschiffen ihr Geld, und rund hundert Menschen betreuen die Meeresmigranten – auch das in einer strukturschwachen Gegend ein nicht zu vernachlässigender Faktor.
Das Blau schimmert immer wieder durch die Häuserzeilen. Man sieht das Glitzern auf dem Wasser, spürt das leichte Kitzeln der salzigen Luft in der Nase. Gleich hinter den letzten Häusern liegt der Hafen. Weil er zu klein für große Schiffe ist, ankern die Transportfrachter der italienischen Marine vor der Küste, um die aufgesammelten Flüchtlinge abzuliefern. Kleinere Boote pendeln dann zwischen Schiff und Hafen, vor den Augen der ganzen Stadt.
Seit einem Jahr ankert die Marine sehr oft vor Pozzallo. Damals waren vor Lampedusa mehrere hundert Migranten im Meer ertrunken. Wenige Tage danach hat die italienische Regierung die Operation Mare Nostrum ins Leben gerufen. Seitdem suchen Militärs das Wasser zwischen Sizilien auf der einen Seite und Tunesien, Libyen und Ägypten auf der anderen Seite nach Schiffen ab. Wenn sie einen dieser völlig überfüllten Kutter sehen, fährt die Marine hin, nimmt die Menschen an Bord und bringt sie sicher an Land – nicht nur, wenn die Flüchtlinge sich in internationalen Gewässern befinden, sondern angeblich auch auf lybischem und tunesischem Gebiet. 150 000 Menschen hat die Marine im Lauf eines Jahres auf dem Mittelmeer so eingesammelt.
Es geht darum, zu kontrollieren, wer nach Europa einreist, und die Schleuser festzunehmen. Vor allem aber geht es darum, die Leben der Geschmuggelten zu retten. Neun Millionen Euro pro Monat kostet das. Es hat sich herumgesprochen, dass Italien dem Sterben im Mittelmeer nicht länger zusieht. Selbst die Polizeiboote aus Malta bringen die Flüchtlinge aus ihrem Gewässer inzwischen nach Italien, nach Pozzallo.
Die italienische Regierung hatte die Staaten Europas gebeten, sich an den Kosten zu beteiligen. Doch Europa unterstützt lieber Frontex, eine unter anderem von der Europäischen Kommission finanzierte Agentur. Mare Nostrum wurde daher zu Anfang November eingestellt.
Dies bringt einen Paradigmenwechsel mit sich, denn Frontex soll vor allem die Grenzen überwachen. Das Retten von Menschenleben, die humanitäre Hilfe für Migranten, dieser Auftrag ist im Statut der Agentur nicht erwähnt, und sie hat in der Vergangenheit auch entsprechend agiert.
Im April dieses Jahres ist daher im Europaparlament eine neue Außengrenzenverordnung beschlossen worden, die Frontex dazu verpflichtet, wie alle anderen auf dem Meer auch Seenotrettung zu leisten. Migrantenboote dürfen nicht mehr – wie zuvor geschehen – zurückgeschickt werden. Dem Reglement zufolge muss künftig auch geprüft werden, ob die aufgegriffenen Personen Anspruch auf Asyl haben. Vorausgegangen war dieser Verordnung die Klage einiger afrikanischer Flüchtlinge, die von italienischen Schiffen im Jahr 2012 wieder nach Libyen zurückgebracht worden waren, obwohl einige von ihnen Anrecht auf Asyl hatten. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof verurteilte diese Praxis.
Anfang November hat Frontex eine Mission namens Triton gestartet, die Mare Nostrum so gut es geht ersetzen soll. Spätestens Ende des Jahres wird Frontex das Ruder komplett übernommen haben. Für die Migranten, die in Nordafrika auf die Überfahrt warten, hat sich die Situation damit verschlechtert. Denn die neue Mission kann allein schon aufgrund der zur Verfügung stehenden Infrastruktur nicht das leisten, was Mare Nostrum geleistet hat. Auf der Internetseite von Frontex findet sich zudem dieser Satz: „Die Lebensrettung hat absolute Priorität bei jedem von Frontex koordinierten Vorgehen, der Fokus bei der gemeinsamen Operation Triton wird jedoch in erster Linie die Grenzverwaltung sein.“ Das verheißt nichts Gutes. Es werden, man muss das so klar sagen, künftig wieder mehr Menschen im Meer ertrinken, unter der sengenden Sonne verdursten oder im Bauch völlig überfüllter und oft knapp seetauglicher Schiffe ersticken. Und damit mehr Leichen in Pozzallo an Land gebracht werden.
Es scheint der menschlichen Natur zu entsprechen, dass der Mensch, wenn er sich anderswo ein besseres Leben erhofft, wandert, selbst wenn er dafür große Gefahren auf sich nehmen muss. Das war vor 60 000 Jahren so, als der Mensch von Afrika aus sich über die ganze Welt verbreitete. Und das ist heute immer noch so, wo die Menschen wieder von Afrika mit diesen Booten über das Meer kommen. Nur gibt es inzwischen Grenzen, und das macht die Wanderung, die so einfach sein könnte, kompliziert, gefährlich – und einträglich für die Organisatoren.
Es ist ein normales Business geworden. In Libyen Tunesien und Ägypten warten die Schmuggler, sie nehmen mal 750, mal 6000 Dollar für die Überfahrt, Schwimmwesten kosten extra, 600 Dollar. Das Geschäft ist durchorganisiert, mit angemieteten geheimen Wohnungen, in denen die Überfahrenden bis zur Abfahrt versteckt werden, mit Bustransporten und Lastwagenfahrten zum Ablegeort. Weigern sich die Passagiere angesichts des bedrohlichen Zustands der Schiffe mitzufahren, werden sie an Bord geprügelt. Allzu oft erklären die Schmuggler ein paar Mitfahrenden, wie man das Schiff steuert und drücken ihnen ein Satellitentelefon in die Hand. Dann starten sie den Motor und überlassen die Gruppe ihrem Schicksal. Es hat sich herumgesprochen, dass die Schmuggler in Italien inzwischen nicht mehr unerkannt davon kommen. Die Polizei befragt die Mitfahrenden nach ihrer Ankunft und sichert Handyvideos als Beweismittel. Mehr als 360 Schleuser kamen so in Haft. Eine negative Konsequenz dieses Vorgehens ist oft die Seenot, und auch deshalb war die Mission der italienischen Marine so wichtig: sie konnte das Sterben im Mittelmeer wenigstens eindämmen.
Es ist normal geworden, dass sizilianische Fischer Tote und Körperteile in ihren Netzen haben. Es ist normal geworden, dass gestandene Schiffskapitäne weinen müssen, wenn sie die ausgemergelten Gestalten an Bord nehmen. Dass Kinder ohne ihre Eltern für die tagelange Überfahrt zusammengepfercht werden. Dass Jahr für Jahr tausende Menschen im Mittelmeer verrecken, Ingenieure und Schuhmacher, Studenten und Ungebildete, Mütter, junge Männer und Kinder, und die Wellen schwemmen sie genau dort an Land, wo sie eine Zukunft vor sich sahen, schon halb verwest oder von Fischen angenagt, oder die Feuerwehr zieht ihre Leichen aus den Kuttern, voll von Kot und Urin der Menschen, die oben auf dem Leichenhaufen gehofft haben, die Überfahrt zu überleben.
Es ist alles normal geworden, so verdammt normal, dass es sich nur ertragen lässt, wenn man es verdrängt. Das passiert im großen Maßstab in Europa, wo man die Länder an der Außengrenze weitgehend mit dem Problem allein lässt, und das passiert inzwischen auch in Pozzallo, wo die Ankommenden sofort in das Erstaufnahmezentrum gebracht werden. Die Migranten bleiben nur wenige Tage, dann kommen sie in einem anderen Zentrum irgendwo in Italien unter. Inzwischen dürfen sie den Betonklotz im Hafen nicht mehr verlassen, und so ist Pozzallo paradoxerweise zu der einzigen Stadt auf Sizilien geworden, in der man keine afrikanischen Einwanderer auf den Straßen sieht. Soldaten bewachen das Aufnahmezentrum. Daneben verrotten die bunt bemalten Boote, mit denen sie kamen, dutzendweise. Inzwischen, heißt es, versenke die Marine die leeren Schiffe einfach draußen auf dem Meer.
Bis vor wenigen Monaten konnten sich die Migranten frei bewegen. In Pozzallo erinnert man sich, wie große Gruppen die Grünanlagen bevölkerten oder den Strand füllten. Vor dem Supermarkt hätten die Fremden gebettelt. „Die Leute sind doch arm dran“, sagen die Pozzallesi; sie verspüren Mitleid mit denen, die alles hinter sich ließen. Viele Sizilianer haben selber Auswanderer in ihrer Familie, die Situation als Einwanderer ist ihnen daher nicht fern. Nicht zuletzt ist man im Süden Italiens sehr gläubig, und hat nicht Jesus die Nächstenliebe gepredigt? Nachdem allerdings ein Migrant aus einer Gruppe abends im Park ein Mädchen begrapscht hatte, kochte die Wut hoch.
Dennoch kamen Ende Juli mehr als hundert Bürger zu einer Beerdigung von Menschen, die sie nicht kannten, ja, die sie nicht einmal zuvor gesehen hatten: 48 Menschen waren auf der Überfahrt gestorben, 48 Särge standen ordentlich aufgereiht auf dem Platz vor der Hafenaufsicht. Der Bischof von Noto predigte, sein muslimischer Kollege, der Imam aus Scicli, sprach bei der Trauerfeier, die Überlebenden der Fahrt legten Rosen auf die Särge ihrer Kameraden. Zwei Monate später die nächste Trauerfeier, wieder tote Überfahrer, 18 Särge dieses Mal, die Zeremonie auf dem Friedhof von Pozzallo, wo dann auch einige der Toten bestattet wurden, die übrigen in den umliegenden Orten. An den Gräbern in Pozzallo sind schlichte Betontafeln angebracht, in welche die Registrierungsnummer der Toten gekratzt ist. Mit schwarzem Lack wurden die Namen aufgepinselt. „Damaalieu“ steht da und „Oussman“, so viel wie man eben in Erfahrung bringen konnte. Auf zwei Tafeln weist lediglich ein Buchstabe auf das Schiff hin, mit dem die hier Begrabenen ankamen. Mehr weiß man nicht über sie.
Es war der Bürgermeister Luigi Ammatuno, der diese Trauerfeiern angeregt hatte. Ammatuno ist ein älterer Herr, 65 Jahre alt, die grauen Haare im Bürstenschnitt, die Augen wach und hell. Er kommt im Poloshirt ins Büro, geht aber so aufrecht, dass selbst ein zerschlissenes T-Shirt an ihm elegant wirken würde. Ammatuno sagt, er sei sehr gläubig, sei Mitglied einer christlichen Bruderschaft. Im Aschenbecher auf seinem Schreibtisch sind ein paar sehr dünne selbstgedrehte Zigaretten ausgedrückt. Er kommt hinter dem reich verzierten Ungetüm hervor und rückt einen Stuhl zurecht. Er will den Menschen gegenübersitzen, wenn er mit ihnen redet.
Vor zwei Jahren war es, er hatte eben erst sein Amt angetreten. Am Strand des Nachbarortes war ein Boot gestrandet, badende Touristen riefen sofort die Polizei und Ambulanzen, doch am Ende lagen 15 junge Männer aus Afrika da. „Maria Grazia, meine Frau, hat mich begleitet“, erzählt Ammatuno. Spontan habe sie beschlossen, ihr bestes Leintuch für die Beerdigung zu stiften. Die Toten sollten nämlich gemäß den Vorschriften des Islams in weiße Tücher gehüllt bestattet werden. Es war ihr Hochzeitsgeschenk, es ist eine Tradition in Sizilien, jungen Paaren zur Vermählung ein Laken zu schenken. So kam es, dass ein jahrzehntelang gehegtes, noch nie benutztes und mit reicher Spitze verziertes Luxusleintuch die sterblichen Reste eines Migranten aufnahm. Ammatuno sagt, er sei stolz auf seine Frau. Hat er geweint, am Strand? Der Herr zögert, streicht sich über seinen Schnauzbart. Ist diese Frage nicht zu privat, sollte er als Bürgermeister, als Respektsperson die Antwort nicht schuldig bleiben? „Ja“, sagt er schließlich, „ja, ich habe geweint. Und zwar sehr viel.“
Die Migrantenzahlen nahmen nach diesem Ereignis weiter zu. An manchen Tagen kamen drei Schiffe, mehr als 1000 Menschen mussten von einer Minute auf die nächste versorgt werden. „Es gab unangenehme Momente“, erzählt Ammatuno.
Er fühlte sich alleine, im Stich gelassen von Rom und von Brüssel. „Ich hätte laut werden können“, sagt er, Hilfe für die Gemeinde fordern. Es seien genug Journalisten aus aller Welt dagewesen mit ihren Videokameras, Mikrofonen und Schreibblöcken. Doch Ammatuno hat Zurückhaltung bewahrt, auch weil er wollte, dass die Bürger ruhig bleiben. „Sie beobachten genau, wie ich mich verhalte.“ Die Situation sei explosiv gewesen, sagt er, die Situation hätte leicht eskalieren können. „Auch deshalb wollte ich nicht der Bürgermeister sein, der rumschreit und jammert.“ Und die Bürger blieben tatsächlich ruhig, weitgehend zumindest, bisher.
Es ist schwer zu sagen, ob Gemeinden eine Art kollektives Gedächtnis entwickeln und was so ein Gedächtnis zu bewegen vermag. In Pozzallo jedenfalls wurde Giorgio La Pira geboren, einer der Vordenker der italienischen Verfassung und lange Jahre Bürgermeister von Florenz. La Pira, 1971 gestorben, engagierte sich Zeit seines Lebens für Frieden zwischen den Menschen, Staaten und Religionen, für ein Miteinander. In der Fußgängerzone in Pozzallo weist eine bunt blinkende Leuchtreklame auf ein Museum hin, das an ihn erinnern soll. Noch ist es nicht eröffnet. Doch vielleicht wirkt sein Vorbild ja trotzdem nach.
In anderen Gemeinden Siziliens sind die Bürger nicht ruhig geblieben. In Agrigento etwa forderte der zweite Vorsitzende des Stadtrates ein Aufenthaltsverbot für afrikanische Migranten, um seine Bürger vor dem Ebolavirus zu schützen. Selbst gelegentliche Besuche im Stadtzentrum seien den Migranten zu untersagen, wenn sie nicht in Besitz eines Gesundheitszeugnisses seien.
Auch in Pozzallo könnte die Stimmung bald kippen. Die Ebola-Epidemie in Westafrika schürt die Angst vor Flüchtlingen. Eltern von Kindern in der achten Klasse der städtischen Schule laufen gerade Sturm dagegen, dass acht afrikanische Kinder weiterhin an einem Begegnungsprojekt mit ihren Kindern teilnehmen können. Auch sie fordern, dass die Flüchtlinge ein Gesundheitszeugnis vorlegen müssen, dabei werden die Kinder ohnehin schon medizinisch überwacht.
Pozzallo ist mit seinen engen Gassen ein schönes Städtchen. Homer soll nördlich der Stadt an Land gegangen sein, von einem dicken alten Festungsturm im Zentrum aus wurden Angriffe von Schiffen auf dem Meer abgewehrt. Abgesehen von den üblichen Touristenbeschäftigungssehenswürdigkeiten wie der Kirche und ein paar alten Palazzi kann die Stadt nicht mit großen Attraktionen punkten. Es lassen sich die unscheinbaren Überreste der alten Schiffswerft begutachten, eine Fläche mitten in der Stadt, wo Holzboote zusammengezimmert wurden. Von einem Zaun abgegrenzt, erinnert ein aufgebahrtes dunkles Bootsskelett daran. Nebenan steht ein Steinhäuschen, hier wurden Seemänner ausgebildet. Noch heute lernen in Pozzallo viele junge Leute die Seefahrt, inzwischen aber in einem jener in quasi jeder italienischen Stadt vorhandenen, unansehnlichen Betonkuben. Es sind auch einige der antiken Handelsspeicher erhalten, jedoch weist kein Schild auf ihre frühere Bedeutung hin.
Den Mangel an Attraktionen gleicht Pozzallo mit umso schöneren Stränden aus: Goldgelb schimmert der Sand dort, er ist viel feiner als anderswo, das Wasser herrlich blau. Felsen unterbrechen die idyllischen Buchten. Sechs Strände in Sizilien dürfen sich derzeit mit der Blauen Flagge schmücken, dem internationalen Gütezeichen für Badestrände. Drei davon sind hier: der Strand vor der Stadt sowie die beiden rechts und links angrenzenden Küstenabschnitte. Trotzdem bleiben die Touristen aus.
Der Bürgermeister Ammatuno sagt, dass viele die Flüchtlinge als Grund genannt und sogar bereits gebuchte Aufenthalte storniert hätten. In einem offenen Brief an die Stadtverwaltung und die Regierung forderte der Vorsitzende des Handels- und Gewerbevereins deshalb finanzielle Unterstützung; dies sei jedoch ausdrücklich nicht als rassistisch zu verstehen.
In der Bar Scordapene, zu Deutsch: Vergiss den Kummer, treffen sich abends die Fischer. Es ist ein karges Lokal am Rande der Altstadt, aber es gibt sogar Pizza. Sie schmeckt. Gegenüber hat die Stadtverwaltung im Jahr 2000 ein Denkmal hingestellt, das sie „allen Gefallenen des Meeres“ gewidmet hat. Flüchtlinge sind damit vermutlich nicht gemeint, denn damals kamen noch kaum welche. „Wo denn?“, antwortet einer der Fischer auf die Frage, ob er schon einmal Kontakt mit Migranten gehabt habe, „auf der Wasseroberfläche, in sieben oder in sechzehn Metern Tiefe?“ Der Mann hat eine Bierflasche in der Hand, es ist früher Abend. Die Laune der Fischer ist in diesen Tagen nicht allzu gut, denn sie dürfen nicht hinaus aufs Meer, die Bestände sollen sich erholen, und was ist schon ein Fischer, der nichts fängt? Zudem fangen sie nicht viel, selbst wenn sie hinausfahren, und die Flüchtlinge machen ihnen nur Ärger.
„Wenn ich ein Boot sehe, drehe ich ab und tu so, als hätte ich nichts gesehen“, sagt der Mann, Giuseppe Agosta, genannt U Gnomo. Bis vergangenen Oktober galt ein Gesetz, das Fischer bestrafte, die Flüchtlinge an Bord nahmen, sie mussten sich als Schlepper vor Gericht verantworten. Nach der Katastrophe vor Lampedusa wurde dieses Gesetz geändert, doch es wirkt immer noch nach. Mit drastischen Folgen: Die Fischer machen um alles, was mit Migranten zu tun hat, einen großen Bogen. „Einmal hatte ich da was im Netz, es sah aus wie eine Sexpuppe“, berichtet U Gnomo. Es war aber keine Sexpuppe. U Gnomo hat die Leiche zurück ins Wasser geworfen, wie er es immer tut. „Das kann mir doch keiner beweisen“, sagt er erregt. Andernfalls lege ihm die Staatsanwaltschaft sein Schiff für die Ermittlungen lahm, und die dauerten. Den Verdienstausfall aber bezahle ihm keiner.
„Es gab eine Gegend, da haben wir festgestellt, dass es dort viel Fisch gibt“, berichtet ein Kollege von ihm. „Dann fuhren wir nochmal hin und sahen: Da sind die Toten. 16 Meilen von Pozzallo.“ Ein anderer sagt über ein reiches Fischgebiet am anderen Ende von Sizilien, vor der Westspitze der Insel: „Früher arbeiteten dort 40 Schiffe, man verdiente gutes Geld. Heute ist da keiner mehr, weil sich die Seemänner weigern. Bei jeder Ladung waren fünf, sechs Tote im Netz. Wenn die Leute erst ein, zwei Tage im Meer geschwommen wären, okay. Aber die treiben da schon seit einiger Zeit herum.“
Das ist die Normalität: Die Strömung nimmt die Leichen mit sich. Wo die Toten sind, ist berechenbar, ist bekannt.
U Gnomo ist zwar 39 Jahre alt, sieht aber immer noch wie ein Bube aus. Er ist Fischer aus Leidenschaft. Seine Eltern arbeiteten in der Landwirtschaft, doch für ihn war schon immer klar, dass er aufs Meer hinausfahren will. Weil er kein gewaltiger Seebär ist, sondern klein und drahtig, haben ihn seine Freunde U Gnomo getauft, „der Zwerg“. Er ist immer noch gerne Fischer, atmet gerne Meeresluft. Doch das Geschäft ist mühselig geworden.
Andauernd verfingen sich ihre Netze an den gesunkenen Booten, schimpft er. Er redet jetzt schneller, gestikuliert. „Das ist gefährlich, verstehst du? Wenn wir nicht aufpassen und weiterfahren, versenken wir uns selbst.“ Und natürlich müsse man die Netze reparieren. Einmal, sagt er, saß er mit einem Kollegen am Hafen, und flickte die Netze, als er jemanden von der Stadtverwaltung nahen sah. „Da haben wir schnell die Knochen aus den Netzen auf zwei Haufen geworfen und uns drauf gesetzt. Später haben wir sie dann ins Wasser gekippt.“ Menschenknochen.
Es gibt kaum eine Region, in der die Leute so verschieden aussehen wie in Sizilien: Es gibt rothaarige Hellhäutige und kleine Sizilianer mit fast schwarzer Haut, die klassische schwarzhaarige Matrona und den brünetten Typus – die fremdländischen Besatzer all der Jahrhunderte haben ihre Spuren hinterlassen. Auch Abdelfettah Hassen ist nicht als Einwanderer zu erkennen, zumal ihn alle Franco rufen, einschließlich seiner Frau, einer blonden Italienerin, allerdings gefärbt. Besser als der Obsthändler kann man wohl nicht integriert sein, aber das war nicht immer so, und Franco hat hart dafür gearbeitet.
„Jahr für Jahr habe ich alle sechs Monate wieder meinen Antrag für ein Ladenlokal gestellt und die 36,18 Euro Gebühr bezahlt“, sagt er. Franco redet inzwischen in breitem sizilianischem Dialekt mit leicht arabischem Einschlag. Viele Jahre verkaufte er das Obst und Gemüse direkt vom Wagen, bis sich endlich ein Bürokrat erbarmte. Seitdem nennt Abdelfettah Hassen einen Holzpavillon sein eigen.
Um vier Uhr am Morgen steht er auf und fährt zum Großmarkt. Um sieben Uhr öffnet er sein Geschäft, das an der Straße zum Hafen liegt. Er kennt alle, zumindest vom Sehen: die Stadtpolizisten, die Fischer, die Boutiqueninhaber und Ärzte, die Leute, die im Flüchtlingszentrum arbeiten. Sie haben ihn schon öfter gerufen, weil sie einen Dolmetscher brauchten; das letzte Mal vor einigen Jahren, als Beamte der Finanzpolizei auf einen flüchtenden Schleuser schossen. Inzwischen ist alles professioneller geworden, sagt Franco, viel besser organisiert. Sie haben nun sogar Übersetzer. Und Einlass in die Unterkunft bekommt nur, wer dort arbeitet, und das auch nur für die Zeit des Dienstes.
Heute würde man sich vermutlich darüber streiten, ob der 16 Jahre alte Junge, der damals, 1979, alleine aus Tunesien kam, ein Flüchtling war. Für Abdelfettah Hassen ist das keine Frage. „Ich war mit meiner Freundin unterwegs, mit fünf Bier in einer Tasche. Das reichte aus, um von der Staatspolizei mitgenommen und verhört zu werden. Und wer den Präsidenten kritisierte, wurde sofort verhaftet.“ Natürlich war er ein Flüchtling.
Franco weiß, was in Pozzallo vor sich geht. Bis abends um neun, wenn er schließt, ist der Tag lang, und viele, die zu viel Zeit haben – und das sind nicht wenige in Pozzallo – kommen auf einen kurzen Schwatz mit dem freundlichen Händler vorbei. Najib Sboui zum Beispiel, ebenfalls aus Tunesien eingewandert, steht immer kurz nach Mittag vor der Theke. Sboui war Fischer und ist seit fünf Monaten arbeitslos. Doch der Grund, weshalb Franco einem seinen Freund vorstellen möchte, liegt weiter zurück.
Najib Sboui war schon in seiner Heimat Tunesien ein Fischer. „Ich kannte das Meer gut“, sagt er, „ich war meist ohne Kompass unterwegs.“ Irgendwann kam er auf die Idee, nicht nur Fische zu transportieren, sondern auch Menschen. Kurzum: Er wurde zum Schleuser. Mit den Schleusern von heute will er aber nicht in einen Topf geworfen werden. „Damals war der Name der Schleuser noch wichtig“, sagt er, „denn sie standen für die Sicherheit anzukommen.“ Er selber hat rund hundert Leute in mehreren Fahrten nach Lampedusa gebracht. „Heute steht die Organisierte Kriminalität hinter den Touren. Die suchen sich Schleuser und bezahlen sie. Ob die Leute auch ankommen, ist denen doch scheißegal!“, schimpft er.
Najib Sboui hat ein weiter Weg nach Pozzallo geführt, der nicht ohne Konflikte mit der Polizei ablief. Mal verkaufte er Drogen, mal war er in Raufereien verwickelt. Von seinen Schleuserfahrten weiß der Staat jedoch bis heute nichts. Mehrere Ausweiseverfügungen gab es gegen ihn, doch inzwischen darf er für immer bleiben. Er lebt jetzt gesetzeskonform, auch seiner Kinder wegen. Täglich holt er sie von der Schule ab.
Unter seiner Wohnung liegt die Moschee von Pozzallo, im Grunde nicht mehr als ein reich mit Teppichen verzierter Garagenraum. „Wenn bei uns ein Flüchtling anklopft, weisen wir ihn nicht ab“, sagt Sboui, während er durch einen mit Holz abgetrennten Gang an der Moschee vorbeigeht. Für eine Nacht dürfe jeder bleiben.
Zwei Stockwerke darüber, in einem notdürftig gestrichenen Raum, sitzt Giusy auf einem Sofa, Najibs Frau. Sie ist zum Islam konvertiert, seit Kurzem trägt sie Kopftuch. Sie werde immer wieder diskriminiert, sagt sie. „Neulich haben mich zwei Polizisten auf der Straße angehalten. ‚Ausweis und Aufenthaltsgenehmigung‘, sagten sie barsch, ,verstehen sie uns?‘“ Die Mutter einer Mitschülerin ihrer Tochter zischte sie einmal an: „Geh zurück in das Land, wo du herkommst.“ Dabei ist Giusy gebürtige Italienerin, ihre Familie aus dem Nachbarort.
Wie zur Bestätigung platzt Aurora, die älteste Tochter, ins Zimmer. Sie kommt direkt von der Schule und bringt weitere Zweifel am ach so ausländerfreundlichen Pozzallo mit. „Mamma, erinnerst Du dich an die afrikanischen Kinder?“, ruft sie, kaum dass sie die Tür geöffnet hat. Die 14-Jährige ist wütend. „Einige Eltern haben sich beschwert, jetzt dürfen sie nicht mehr kommen!“ Sie und ihre Mitschüler wollten nicht streiken, sondern rebellieren, sagt sie, und ballt die Faust, streckt den Arm aus: „Nein zu Rassismus“ ist darauf zu lesen. Alle Schüler ihrer Klasse haben sich das heute auf die Haut geschrieben, außerdem haben sie ein Protestplakat gemalt. „Morgen malen wir wieder ein Plakat. Und dann hängen wir es außen an die Schule. So kann es doch nicht weitergehen!“