Am Ende, nachdem er uns eine Stunde lang in seinem Büro ausführlich unsere Fragen im Interview beantwortet hat, begleitet uns der Staatsanwalt Nicola Gratteri zum Aufzug. „Dann müsst ihr nicht laufen und die ganzen Sachen die Treppe runtertragen“, sagt er und will uns schon verabschieden. Gemeinsam mit zwei wunderbaren Kollegen drehe ich eine Reportage über die ’ndrangheta für Arte. Wir waren sehr froh, dass der Antimafia-Staatsanwalt sich die Zeit für uns nahm, wo doch ein Maxi-Prozess in Lamezia Terme, eine Dreiviertelstunde entfernt, seine Abteilung in Beschlag nimmt. Gratteri fällt dann noch etwas ein. „Wartet einen Moment“, sagt er und verschwindet. Bald kehrt er zurück. „Ich habe noch was für Euch“, sagt er und streckt jedem von uns dreien einen Kugelschreiber hin. „Gratteri non è solo“, steht darauf, „Gratteri ist nicht allein“.
Bei unserer Fahrt in den folgenden Tagen quer durch Kalabrien wird man uns oft klar machen, wie sehr der Antimafia-Ermittler wertgeschätzt wird. Er ist eine Symbolfigur, einer, dem man vertraut, und der ein breites Kreuz hat. Der aber auch vor nichts zurückschreckt und die Mafia und ihre Unterstützer auskehrt, egal, wo sie sitzen, in der Wirtschaft, in der Politik, in der Justiz und auch die untreuen Kollegen in den Sicherheitsorganen. Der bereits erwähnte Prozess mit weit über 300 Angeklagten belegt das. Einer der Angeklagten ist ein Finanzpolizist, der 1969 im schwäbischen Leonberg geboren worden ist. Er arbeitet bei der Guardia di Finanza, führte wichtige Vernehmungen mit Kronzeugen durch und gab die Ergebnisse über Rechtsanwälte direkt an die Köpfe der ’ndrangheta-Clans in der Region weiter. Die Antimafia-Staatsanwaltschaft in Salerno, Kampanien, führt Ermittlungen gegen weitere Personen. Gratteri ist mit dem Aufräumen also noch nicht fertig. Auf der Anklagebank sitzen wieder auch Politiker, die der Anklage zufolge nicht dem Gemeinwohl gedient hatten, sondern der Mafia. Obwohl das Ausputzen wichtig ist, macht man sich damit nicht nur Freunde. Aber Gratteri ist wirklich nicht allein. Er hat die Bevölkerung hinter sich, und er hat Kolleginnen und Kollegen, die wie er Kalabrien, Italien, Europa und die Welt von der ’ndrangheta bereinigen wollen.
Ob dieser Kampf zu gewinnen ist, weiß niemand. Dafür, dass er geführt werden muss, wirbt der Staatsanwalt aber überzeugend, zumindest in Italien. Bei meinem letzten Besuch bei ihm hat er meiner Kollegin Margherita Bettoni und mir stolz einen Plan gezeigt für einen riesigen Gerichtssaal in Lamezia Terme, der auch unter Corona-Bedingungen einen Maxi-Prozess gegen die ’ndrangheta ermöglicht. Mit mehreren Zugängen, 150 zeitgleich möglichen Live-Verbindungen für Vernehmungen von Inhaftierten in Gefängnissen und Kronzeugen, die von ganz Italien zugeschaltet werden können. Mit Presseplätzen natürlich. In Rekordzeit von fünf Monaten wurde das Gebäude für das von ihm initiierte Projekt hergerichtet. Täglich von Montag bis Freitag tagt jetzt das Gericht in der Aula Bunker. Das Gebäude heißt so, weil sich auf dem Gelände, einem ehemaligen Industriegebiet, nebenan ein Bunker befindet.
Gratteri wollte, dass den Mafiosi in ihrer Heimat Kalabrien der Prozess gemacht wird. Direkt dort, wo sie, wie sich uns später bei unserer Reise zeigen sollte, die Bevölkerung misshandeln. Direkt dort, wo die Clans seit über 150 Jahren meinen, die Gegend für sich beanspruchen zu können. Wo Milliarden aus dem Drogenhandel, anderen illegalen und legalen Geschäften landen, und doch die Häuser verfallen.
In Italien hört man Gratteri zu. Seine Bücher, die er zusammen mit dem Wissenschaftler Antonio Nicasio schreibt, sind Bestseller. Gratteri ist in Talkshows zu Gast und seine Arbeit wird in den Medien ausführlich gewürdigt (wenn nicht gerade eine Splitterpartei dankbar eine Schwäche des italienischen Wahlsystems nutzt und die Regierung sprengt, wie am ersten Tag des Prozesses Rinascita Scott). Nach dreißig Jahren Ermittlungen gegen die ’ndrangheta gehört er zu den Menschen, die die Organisation wie kaum jemand anders kennen. Und daher warnt er unermüdlich vor den Gefahren der Organisation.
In Italien kennt man die Mafia-Clans, das Blut, die Morde, die Bomben, die Freunde in der Politik, dort findet er einen fruchtbaren Boden. Im Ausland verfangen seine Appelle dagegen ungehört. Aber Gratteri gibt nicht auf.