Die Luft flirrt in der Hitze über der großen Betonfläche vor der Halle, ein Kühllastwagen parkt an ihrem Rand. An seinem Heck leuchtet das Emblem des Roten Kreuzes. Hier sind sie drin. Ab und an bläst der Wind einen Fetzen Gestank herüber, vergleichbar dem von Kuhdung, nur süßer. Es ist der Geruch des Todes. Seit Kurzem werden hinter den Mauern dieser Halle massenweise Leichen gewaschen, geröntgt, begutachtet, die persönlichen Dinge und alles, was die Menschen bei sich trugen, erfasst und dokumentiert. Werden Tätowierungen, Narben und Knochenbrüche gesucht, Gebisse fotografiert und Kleidungsstücke und Schmuck aufgenommen. Gerichtsmediziner aus ganz Italien beteiligen sich an dem Projekt. Kühllastwagen wie dieser bringen die Toten.
Hier, umgeben von Zäunen und Mauern und im Schutz von hochbewaffneten Soldaten, auf einer Nato-Basis an der sizilianischen Ostküste nahe der kleinen Stadt Melilli, hier will Italien Europa aufrütteln. In einer Halle, die erdbraun ist wie die von der Sonne verbrannten Flächen drum herum, erdbraun wie die Verwaltungsgebäude nebenan, erdbraun wie die Tarnuniformen der Soldaten, die hier Dienst tun.
Der Weg zu dieser Halle ist mit Gittern abgegrenzt. Attenzione, area riservata, warnen daran angebrachte Schilder, sich nähern untersagt. In gleich vier Sprachen verbieten sie das Aufnehmen von Fotos. Kaum einmal schimmert das Blau des Meeres irgendwo zwischen den Gebäuden durch.
Es ist der Versuch, systematisch so genannte post-mortem-Daten zu sammeln, also Informationen, die helfen können, diese Toten zu identifizieren. Die Aktion ist perfekt durchorganisiert: am einen Ende des Betonkubus verschwinden die Lastwagen in der Halle. Drinnen öffnen sich die Türen der Anhänger, die Leichensäcke werden herausgeholt, auf die Tische der Pathologen gelegt, die Reißverschlüsse aufgezogen; die Gerichtsmediziner machen sich an die Arbeit. Danach wandern die Toten wieder in einen Kühlraum, bevor sie auf verschiedenen Friedhöfen in Sizilien begraben werden.
Es sind rund 800 Körper und manchmal auch nur einige sterbliche Überreste von Menschen, die hier über die Tische gehen. Es ist das, was von den Menschen übrig geblieben ist, die sich am 18. April 2015 von Libyen aus auf den Weg in ein besseres Leben machten. Dieser Weg endete auf einem überfrachteten Boot nach wenigen Stunden und rund hundert Kilometern in 375 Meter Tiefe.
Zum Teil wochenlang hatten die Migranten auf diese Überfahrt gewartet, untergebracht in einer Lagerhalle in Tripolis, bewacht von Wärtern, die mit Rohren auf sie einprügelten, wenn sie Lust dazu hatten. Mehrere Menschen sollen schon während dieser Zeit an ihren Verletzungen gestorben sein. Am Morgen dieses 18. Aprils wurden die Menschen – Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Bangladesch, Mali und anderen Ländern – für die Überfahrt zu einem Strand bei Darabli gebracht, etwa 50 Kilometer östlich der Hauptstadt. Männer mit Maschinenpistolen standen ihnen Spalier, zwangen sie auf ein Schlauchboot. Ein Junge, der entgegen der Order auf dem Boot aufstand, wurde sofort getötet.
Das Schlauchboot transportierte die Flüchtlinge zu einem etwas größeren Boot, einem Fischkutter aus Stahl, 21 Meter lang und sieben Meter breit. Die Schlepperbande zwang die Menschen, die sich ihnen anvertraut hatten, mit Gewalt auf das dreistöckige Schiff. Sie zwangen die Menschen zu Hunderten in den Schiffsbauch, selbst das Deck des nicht hochseetauglichen Bootes wurde vollgestopft. Der Kutter konnte eigentlich nur 30, 35 Leute fassen, wenn er noch sicher steuerbar sein sollte. Den Schleppern aber war das egal. Zwischen 1000 und 7000 Dollar hatten die Mitfahrenden für diese Hochrisikofahrt bezahlen müssen. Millionen für die Hintermänner und keine Schwimmwesten für die Passagiere.
Ein junger Mann aus einer Fischerfamilie, der ein wenig Erfahrung im Umgang mit Booten hatte, bekam auf dem Kommandostand ein Satellitentelefon in die Hand gedrückt, verbunden mit der Aufforderung, draußen, in internationalen Gewässern, einen Hilferuf abzusetzen.
Am Abend des 18. April 2015, gegen 23:30 Uhr, ging tatsächlich ein Anruf beim Seenotrettungszentrum der italienischen Küstenwache ein. Sofort wurde ein portugiesischer Frachter, der in der Nähe des Flüchtlingsboots fuhr, zu den Hilfesuchenden beordert.
Der junge Steuermann beging dann einen verhängnisvollen Fehler: Er lenkte das Boot in die falsche Richtung. Ein, zwei, drei Mal knallte das Boot gegen den Metallrumpf des herangeeilten Transportschiffs. In Furcht stürzten die Flüchtlinge an Deck auf die andere Seite ihres Bootes. Was die im Frachtraum Eingeschlossenen von diesem Moment mitbekamen, kann man nur mutmaßen.
Der Kapitän des Frachters begann ein international gebräuchliches Manöver für die Seerettung, er fuhr in eine 360-Grad-Wende. Als er den Unglücksort wieder erreichte, schwammen nur noch wenige Menschen an der Wasseroberfläche, zum Teil klammerten sie sich verzweifelt an hölzerne Teile des Steuerstandes. Das Flüchtlingsboot hatte sich nach der Kollision auf die Seite gelegt und war binnen Minuten untergegangen. 28 Menschen konnte die Besatzung des Frachters retten, darunter den Steuermann, der nun im Gefängnis auf seinen Prozess wartet. Zwischen ihnen trieben 24 Tote im Wasser. Hunderte nahm das Boot mit in die Tiefe.
Seit einigen Jahren befragen italienische Behörden die ankommenden Flüchtlinge und suchen unter ihnen auch nach Schleusern und Verantwortlichen. Dies ist auch der Grund, weshalb die Polizisten den jungen Mann, der das Boot steuerte, unter den Geretteten fanden. In Europa gerät oft aus dem Blick, dass Männer wie er, vor allem aber die Hintermänner in Libyen und im Sudan, Teil eines hochkriminellen Systems sind, das extreme Profite generiert. Lange Zeit konnten diese Kriminellen quasi ungestört von europäischen Sicherheitskräften ihrer schmutzigen Arbeit nachgehen.
Nach den Tätern sollen nun auch die Opfer in den Fokus rücken. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi sagt, dieses Schiff enthalte Geschichten, Gesichter, Personen, nicht nur eine Anzahl Kadaver: Ich habe der Marine die Bergung angeordnet, um jene unsere Brüder und Schwestern begraben zu können. Andernfalls wären sie für immer am Meeresgrund geblieben. Renzi schreibt weiter auf Facebook, jemandem ein Grab zu schenken heiße, der Person das Recht auf Erinnerung wiederzugeben. Und es heiße, Europa an die Werte zu ermahnen, die wirklich zählen. Zugleich muss Renzi seinem Volk erklären, warum ein Boot mit Leichen in einer rund 20 Millionen Euro teuren Operation zu der Militärbasis in Melilli gebracht wird.
Vielleicht ist dies genau der richtige Ort für diese Operation, für das Schiff mit den Toten. Einst zogen sich hier Felder die Küste entlang, unterbrochen von Resten einer antiken griechischen Siedlung, eine fruchtbare, würdevolle Landschaft. Dann kam die Schwerindustrie und mit ihr die Hoffnung auf ein besseres, ein reicheres Leben. Jetzt ist die Ernüchterung da, die schöne Landschaft verschandelt, in der Luft Gestank und unter den Feldern, so man den Menschen glauben mag, Schlacke und Schmodder. Inzwischen füttert eine dicke Pipeline vom Wasser aus die begierige Raffinerie mit Öl, rot-weiße Schlote sehen aus wie in den Boden gerammte Giftpfeile. Rings um die Basis wird gearbeitet, industriell, in Schichten, rund um die Uhr.
Auch auf dem Militärgelände wird neuerdings im Akkord geschuftet. Hinter der Halle, am Strand, wo das Boot der Flüchtlinge zunächst liegt. Eigenartigerweise strahlt das Blau auf dem Rumpf immer noch im Sonnenschein. Die lange Zeit unter Wasser hat dem Schiff kaum etwas anhaben können.
Eigentlich hätte die Aktion schon im April über die Bühne gehen sollen, sie war daher auf eine Außentemperatur von knapp zwanzig Grad kalkuliert. Dann aber verzögerte sich die Bergung. Einmal war das Meer zu unruhig, ein anderes Mal ein für das Heben des Schiffes konstruierter Apparat defekt. Erst mit zwei Monaten Verspätung wurde das Schiff zu dem Nato-Steg geschleppt und an Land gebracht. Jetzt brennt die Sommersonne mit voller Kraft auf es hernieder, 32 Grad zeigt das Thermometer. Eigentlich hätte das Boot gleich in ein eigens errichtetes Zelt gebracht werden sollen, wo es mit Stickstoff gekühlt werden kann. Die Feuerwehr musste jedoch erst einige Aufbauten entfernen. Vor allem aber lagen an Deck noch viele Tote. Nur noch Knochen waren von ihnen übrig, Fische hatten ihr Werk verrichtet. Ihre Köpfe waren am Heck konzentriert, wohl weil das Schiff bei der Bergung in Schieflage geraten war.
Zwei matratzengroße Löcher haben die Feuerwehrmänner in das dicke Blech des Kutters geschnitten. Man kann durch sie und den Rumpf hindurchsehen. Auf einer Hebebühne davor stehen Techniker, die das Schiff begutachten. Außerdem ist neben ihnen eine mobile Treppe an das Schiff gelehnt. Sie hat die Männer in den weißen Schutzanzügen an Bord gebracht, die nun das Deck inspizieren.
Zu diesem Zeitpunkt, vier Tage nach der Ankunft des Schiffes in Melilli, hat die Feuerwehr bereits 235 Leichen aus dem Schiff geborgen. Selbst im Maschinenraum, ein winziger, mit Rohren und Gerätschaften vollgestopfter Teil des Boots, fanden Sie 34 Tote. Zum Teil waren sie so unter Zuleitungen und Tanks gepresst, dass man sie nicht gleich herausholen konnte, sondern erst die Apparaturen entfernen musste. Hier bargen die Männer auch das Skelett eines Erwachsenen. Mit seinen knochigen Armen hielt er ein Kinderskelett umarmt, nach dreizehn Monaten immer noch so wie zum Zeitpunkt des Sterbens. Hunderte Tote sind zu diesem Zeitpunkt noch im Bauch des Schiffes.
Schon bei den Vorbereitungsarbeiten waren die Reste von 169 Menschen im Umfeld des Wracks zusammengeklaubt worden. Gleich nach dem Heben des Flüchtlingsboots waren zwei Schiffe der Marine erneut an die Bergungsstelle gefahren. Sie haben inzwischen eine weitere Lieferung nach Melilli gebracht. Die Arbeiten, die auf einem weiten Areal am Meeresgrund erfolgten, haben zum Auffinden von weiteren 38 Leichen und einigen menschlichen Resten geführt, vermeldet die Marine dazu nüchtern. Leichen, die ebenfalls in den Kühllastern verstaut wurden.
Schließlich wird der 150-Tonnen-Koloss in das Kühlzelt verfrachtet. Die Angehörigen der Feuerwehr stehen Spalier, die Marinesoldaten salutieren. Versteifte Gesichter. Manche Männer bekreuzigen sich, während das Schiff auf einer Stützkonstruktion an ihnen vorbeigeschoben wird.
Feuerwehrmänner aus ganz Italien kämpfen sich nun durch die Leichenberge. Einen Körper nach dem anderen heben sie aus dem Schiff, von Null Uhr bis Mitternacht nonstop, immer in Einheiten zu dreißig Minuten, weil dann die Sauerstoffflaschen getauscht werden müssen und den Männern der Schweiß in den Stiefeln steht. Bei ihrer Arbeit müssen sie ein ehernes Prinzip der Feuerwehr ignorieren und auf die Masse aus Toten steigen. Die Gerichtsmedizinerin Cristina Cattaneo will es so. Sie müssen die Leichen von oben einzeln von der Masse aus Körpern heben. Wie Archäologen arbeiten sich die Feuerwehrmänner dann Schicht für Schicht in die Tiefe. Nur so ist sichergestellt, dass keine Körperteile durcheinanderkommen. Persönliche Gegenstände werden mit in die Leichensäcke gegeben. Die Mailänder Universitätsprofessorin ist stets vor Ort und leitet die Arbeiten an.
Jeden Abend treffen sich die Feuerwehrmänner zu einer internen Besprechung. Wir machen da auch mal Witze, erzählt einer beim Mittagessen, die Anspannung muss ja raus. Mehrere Psychologen betreuen die Kräfte, ebenfalls rund um die Uhr. Auch bei den abendlichen Dienstbesprechungen ist einer anwesend – zumal die Meetings in dem Zelt stattfinden, indem die Psychologen sonst ihren Dienst tun. Einmal fing ein Feuerwehrmann bei der Arbeit plötzlich an, Dinge zu tun, die seinen Kollegen merkwürdig vorkamen. Nur weil ihn die Kollegen sehr gut kannten merkten sie, dass er dabei war, wirr zu werden. Er ist einer von mehreren, die mit dem psychischen Druck nicht klarkamen.
Die Nato-Basis ist streng abgeschirmt – nicht nur, um die Würde der Toten zu wahren, sondern auch, weil die Militärführung in diesen Zeiten Angst vor einem Terroranschlag hat. Selbst wir müssen jedes Mal unseren Pass vorzeigen, und Kameras untersuchen unser Auto von unten, sagt der Ingenieur Roberto Di Bartolo. Der Sechzigjährige ist einer der wichtigsten Männer für das Vorhaben, und das nicht nur wegen seines ausgleichenden Gemüts: Di Bartolo, Vizekommandant der Feuerwehr in Syrakus, ist das Mastermind hinter „Melilli 5“, so der offizielle Name des Projekts: Er hat die Planung geleitet – zunächst gegen seinen Willen.
Es ist abends um sieben, Di Bartolo ist gerade von der Basis ins Feuerwehrmagazin gekommen und sollte die zwanzig Kilometer eigentlich fast gleich wieder zurückfahren. Dann setzt er sich doch in seinen Schreibtischstuhl, entschuldigt sich für die Unordnung in seinem Büro und nimmt sich eineinhalb Stunden Zeit; sein Kollege Paolo leitet derweil das Team vor Ort. Stinke ich?, fragt er. Ich wurde zwar desinfiziert, erklärt er, aber der Leichengestank klebt an einem. Ich rieche nichts. Heute Abend gehen wir in den Laderaum, berichtet er. Auf dem Schreibtisch liegt ein rot umhülltes Aktenbündel. Das ist das Projekt, sagt er und lässt seine Hand darauf fallen. 46 Mal wurde es überarbeitet.
Am Anfang hat er sich dagegen gewehrt, seinem Chef den Wunsch abgeschlagen, die Aktion zu planen. Ich dachte, es gehe nur um die Bergung, erklärt er. Sein Chef ignorierte den Widerwillen und gab ihm formal die Anordnung, das Projekt in Angriff zu nehmen. Di Bartolo fügte sich der Order pflichtgemäß. Es fanden sich unter seinen Kollegen allerdings kaum Freiwillige für die Aktion. Der Feuerwehrleitung war es jedoch wichtig, die Männer zu einem derart – körperlich wie seelisch – belastenden Projekt nicht zu verpflichten. Dann kam Cristina Cattaneo nach Syrakus, die Gerichtsmedizinerin aus Mailand, und wendete das Blatt. Sie erklärte den Männern, dass es vor allem um die Identifizierung der Toten gehe. Um Klarheit für deren Angehörige. Und um Strafverfolgung für die Täter. Schließlich seien die Migranten Opfer einer Straftat, Opfer krimineller Schleuser geworden. Cattaneo überzeugte nicht nur Di Bartolo, den Mann, auf den sie hier viel halten und dem sie zuhören, sondern auch die anderen Feuerwehrmänner.
In der Folge meldeten sich weit mehr Freiwillige als für die Umsetzung des Projekts nötig. Im März 2016 machte sich das Planungsteam an die Arbeit. Di Bartolo verbrachte auch seinen sechzigsten Geburtstag im Büro.
Roberto Di Bartolo ist ein nachdenklicher Mensch, selbst wenn er ein Techniker ist, der darauf ausgerichtet ist, Probleme zu analysieren und zu lösen und vor allem durch gute Planung zu vermeiden. Neben seinem Schreibtisch steht wie zum Beweis ein großes Zeichenbrett. Pläne zu machen ist wichtig, sagt er, Eisenhower zitierend. Wenn man dann aber auf dem Schlachtfeld ist, sagte Eisenhower, sagt Di Bartolo, dienen sie zu nichts. Aber immerhin hat man in der Planung das Vorhaben von möglichst vielen Seiten beleuchtet.
Diese vielfache Perspektive zeigt sich auch in dem roten Projektordner vor ihm. Natürlich sind darin die Überlegungen für die Versorgung der Menschen festgehalten, die technische Versorgung, die mit Lebensmitteln, auch die psychologische Betreuung. An alles haben Di Bartolo und seine Männer gedacht, sogar daran, das Projekt von der Feuerwehrgewerkschaft absegnen zu lassen. Man kann es auch gegen deren Willen tun, sagt der Ingenieur, aber dann wird es nicht gut. Dann kam aber doch alles wieder anders. Manche Leichen ließen sich mit den Handschuhen nicht greifen, weil die Körper von einer glitschigen Wachsschicht überzogen waren, die sich unter bestimmten Umständen bildet. Oder es drohten die Einweganzüge auszugehen, die die Männer unter dem Schutzanzug tragen, weil der Einsatz länger als geplant dauerte. Manchmal mussten Di Bartolo und sein Team binnen Minuten oder Stunden Lösungen finden.
Zuweilen wirkt es etwas verstörend, dass Di Bartolo oft ein leichtes Lächeln im Gesicht trägt, wenn er von seiner Arbeit erzählt, der schwierigsten Aufgabe in seiner Karriere. Wenn er von Dingen spricht, bei denen es nicht passt. Aber man darf das nicht falsch verstehen. Es ist eine Form von Ehrlichkeit eines Menschen, der die Leiche von einem sah, der sich mit Sprengstoff suizidierte, der viel Leid kennenlernte. Der den Verlust eines Kameraden bei einem Arbeitsunfall im Feuerwehrmagazin zu beklagen hatte und der den Angehörigen Bescheid sagte. Und der vor allem weiß, dass es immer weiter geht. Es ist auch für uns eine Ausnahmesituation, sagt er. Wenn eine Fabrik einstürzt, haben wir es mit Dutzenden Toten zu tun. Hier sind es einige hundert, mehr als zehn Mal so viel. Wir haben es noch immer nicht bis auf den Boden geschafft, sagt Di Bartolo, ich denke, es ist noch eine Schicht von einem Meter, einem Meter zwanzig mit Leichen, bis wir durch sind.
Man kann sich hinter technischen Überlegungen verstecken, hinter Zahlen, Gewohnheiten, hinter Gewöhnungen. Nicht zuletzt dient auch eine gute Planung dazu, emotionale Störungen in den Griff zu bekommen. Doch dann fällt die Betroffenheit dennoch völlig unerwartet über einen her. Heute Morgen haben wir einen Jungen geholt, berichtet Di Bartolo. Während meine Männer diesen jungen Mann aus dem Schlamm zogen, sah ich diese Nike. Weiße Schuhe, einstmals weiß. Diese Dinge sind Objekte, die die Hoffnung symbolisieren, sagt Di Bartolo, die Hoffnung auf eine bessere Welt, wer weiß, was sie sich vorstellen. Und dann siehst du diese Dinge im Dreck. Oder eine Mütze, in deren Innerem Telefonnummern notiert waren, sogar eine aus Syrakus, seiner Stadt. Sie fahren mit einer Hoffnung über das Meer, wiederholt er. Das sind die Sachen, die bleiben, seufzt er, die Sachen, die einen beschäftigen.
An der Wand seines Büros hängt ein Bild fröhlicher afrikanischer Kinder. Es sind Kinder einer Schule an der Grenze von Tansania zu Malawi. Sein Sohn hat es aufgenommen. Er studiert Afrikanistik, hat sich mit einer Tansanierin verlobt. Di Bartolo gibt an Weihnachten Geld, damit die Schule sich eine Ziege kaufen kann, um die Schüler zu verköstigen.
Der Ingenieur kommt auf die Nachkriegszeit zu sprechen. Ich erinnere mich an diese Filme, als die Besatzungsmächte die in der Umgebung von Vernichtungslagern ruhig lebenden Leute zwangen, das Konzentrationslager anzuschauen, sagt er. Sie wussten, dass dort ein Arbeitslager ist, vielleicht sogar, dass die Leute dort sterben. Aber vielleicht wurde diese Idee nicht greifbar. Weil sie diese Leute hinter dem Zaun, der ihre spielenden Kinder von dem Vernichtungslager trennte, nicht sahen, mutmaßt Di Bartolo und nickt: Wir sind ein Stück weit hinter diesem Gartenzaun.
Dann klingelt das Telefon. Paolo, der Kollege auf der Basis, der jetzt eigentlich schon Feierabend hat, aber auf Di Bartolo warten muss, klingelt durch. Paolo, ich bin noch im Büro, sagt Di Bartolo. Brauchst Du etwas? Wenn ihr mich braucht, komme ich sofort. Ansonsten dauert es noch etwas. Ich habe seit Wochen meinen Posteingang nicht mehr kontrolliert.
Wie alle auf der Basis ist auch Roberto Di Bartolo von morgens bis abends eingespannt. Seine Wohnung betritt er fast nur, um Kleider zu wechseln. Meine Frau siezt mich inzwischen, scherzt er manchmal.
Lass die Arbeiten anfangen, sagt er seinem Kollegen. Arbeitet Cristina heute drinnen? Bis später. Er legt auf, und unser Gespräch ist ebenfalls vorüber. Di Bartolo muss nach Hause, zu seiner Frau, etwas essen. Es wird Mozzarella geben, weil das am schnellsten geht.
Nach zehn Tagen und Nächten haben die Feuerwehrmänner fast alle Toten aus dem Schiff geborgen. Die Leichen lagen überall, selbst ganz unten im Bauch knapp oberhalb des Kiels; die Schleuser hatten jeden Quadratzentimeter ausgenutzt. Das Boot wurde derart vollgestopft, dass Italiens oberster Feuerwehrmann bei einer Pressekonferenz zum Abschluss der Leichenbergung ein Papierstück auffalten ließ. Es maß ein Meter auf einen Meter. Die Menschen im Laderaum des Schiffes hatten weniger als ein Fünftel dieser Fläche Platz. Die genaue Anzahl der Menschen, die ihren Tod auf dem Schiff fanden, ist immer noch unklar: nicht alle Körper und Skelette waren komplett. Einzelne Teile müssen erst noch zugeordnet werden.
Auf dem Platz vor der Halle hört man jetzt das Brummen der Kühlaggregate von den nunmehr voll beladenen Lastwagen. Das Geräusch mischt sich mit dem Surren der Maschinen in dem Zementwerk und den Industrieanlagen, die das Militärgelände zwischen Meer und Land einklemmen. Professoressa!, rufen drei Männer in Tarnanzügen, die gerade eine Pause vor der Kantine machen. Professoressa, sie können hier nicht einfach vorbeigehen, sagen die drei und grinsen. Cristina Cattaneo, die gemeint ist, bleibt tatsächlich für einen kurzen Plausch stehen, dann macht sie sich auf ihren Weg zur Arbeit. Sympathisch sei sie, sagt einer der drei zu seinen Kollegen, während Cattaneo schon fast die Halle erreicht hat. Sie ist beliebt hier, die Professorin aus Mailand. Vielleicht weil Soldaten mögen, wenn jemand eine Mission hat.
Einer der Männer nimmt seine Sonnenbrille ab und reicht sie seinem Kollegen. Die drei ähneln sich, alle etwa mittelalt, kurze Haare, nicht mehr ganz schlank, aber trainiert. Nur der, der jetzt mit neugierigem Blick auf mich zukommt, hebt sich wegen seiner graumelierten Haare von den anderen ab. Seine Zigarre behält er im Mund. Ich habe auch auf dem Boot gearbeitet, sagt er, und bin jetzt in der Halle. Dank des an seiner Uniform angebrachten Emblems erkenne ich, dass er für das militärische Korps des Roten Kreuzes in Italien tätig ist. Er steht da, überlegt, was er noch sagen soll, die Zigarre bewegt sich keinen Millimeter, er möchte noch etwas sagen, man sieht es ihm an, hier in der Sonne, vor dieser Halle, in dieser Situation zwischen Normalität und Grauen, Schwatz mit Kollegen und Arbeit mit Toten, Mittagessen und Leichengestank, im kleinen Melilli, im Jahr 2016, in Europa, an einem Rand des Mittelmeeres. Wir versuchen, den Armen da Respekt entgegenzubringen, merkt er schließlich an. Es sind nicht die Toten, die Angst machen, es sind die Lebenden. Sein Händedruck ist kräftig.
Später frage ich Cristina Cattaneo, die seit zwanzig Jahren mit Toten arbeitet, ob sie die Bilder hier in der Halle lassen kann oder sie mit nach Hause nimmt. Sie wirkt nicht wie eine Rechtsmedizinerin, erst recht nicht wie die Leiterin von Italiens wichtigstem Forensik-Labor. Man vermutet in ihr eine Hippiefrau oder eine Tierrechtsaktivistin, die sich zufällig hierher verirrt hat. Ihr wuseliges Haar ist in mehreren Tönen blond gefärbt (aber eigentlich grau, wie der Ansatz verrät). Dazu schlüpft sie manchmal in eine bunte bequeme Pluderhose. Lederbändel zieren ihren Arm. Und natürlich trägt sie eine Sonnenbrille, gegen das allzu grelle Licht draußen vor der Halle.
Cristina Cattaneo ist eine Koryphäe der Forensik: Sie hat in Mailand das Labor für forensische Anthropologie und Zahnkunde, kurz Labanof, zur Hochform geführt. Dass man in Italien verstärkt über unbekannte Tote spricht, ist ihr Verdienst. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und sie selbst sind in der ganzen Welt bei Fachkonferenzen gefragte Redner. Cattaneo ist sogar als Beraterin von Interpol tätig. Nach der Kooperation mit einer Fernsehsendung, die sich der Suche nach Vermissten widmete, ist sie auch unter Nicht-Fachleuten landesweit bekannt. Eitelkeit ist es nicht, was sie antreibt. Ihr geht es um das Thema: Es gibt zu viele unbekannte Tote. Das war in Italien schon länger so. Nur seit so viele Migranten verstärkt über das Meer kommen und viele die Reise nicht überleben, ist die Situation noch schlimmer geworden.
Diese Sachen trägt man immer mit sich herum, natürlich, sagt Cattaneo, die diese Frage schon öfter gestellt bekam. Wenn ich die Sachen aus der Tasche eines Skeletts Blatt für Blatt anschaue und das Zeugnis eines 15-, 16-Jährigen durchblättere, natürlich berührt mich das.
Dass Migranten im Mittelmeer ertrinken, ist seit vielen Jahren normal. Dass sie wissenschaftlich erfasst werden, dagegen nicht. Zum ersten Mal für Aufsehen sorgte ein Schiffsunglück einen Kilometer vor der Küste von Lampedusa im Herbst 2013. Knapp 400 Personen starben beim Kentern ihres Bootes. Die Leichen konnten alle geborgen werden.
2007 hatte die italienische Regierung als Reaktion auf die populäre Fernsehsendung Chi l’ha visto ein neues Amt eingerichtet. Es war die Sendung, in der Cristina Cattaneo auftrat, um Hilfe für die Identifikation von unbekannten Toten zu finden. Seitdem kümmert sich ein Mann mit wenigen Mitarbeitern in einem Büro unweit des römischen Hauptbahnhofs um die in Italien vermissten Personen.
Seit Dezember 2013 hat Vittorio Piscitelli dieses Amt inne, ein Mann, der mit seinen nach hinten gekämmten grauen Haaren zwar Ruhe ausstrahlt, der aber gerne Dinge bewegt. Die Situation in Lampedusa hat uns unvorbereitet getroffen, sagt er. Wir hatten Erdbeben mit vielen Toten, aber die kamen alle aus der Gegend, da wusste man gleich, wer sie waren. Aber unbekannte Flüchtlinge?
Piscitelli ist ein gläubiger Mann. In seinem Büro fehlt ein Bild des aktuellen italienischen Präsidenten Sergio Mattarella natürlich nicht, doch darunter hat Piscitelli zwei Fotos der beiden vergangenen Päpste anbringen lassen. Auf seinem Tisch liegt eine persönliche Einladung von Mattarella zu einem Themenabend, Ausschwitz und der Umgang in Italien damit.
Piscitelli nahm sich vor, den Toten von Lampedusa einen Namen zu geben. Nur: Wie diese Aufgabe angehen? Er fragte Cristina Cattaneo, ob sie nicht helfen wolle, diese Personen zu identifizieren. So fanden im Jahr 2014 zwei Macher zu einer gemeinsamen Mission zusammen. Bald entwickelte Piscitelli mit Cattaneo ein Pilotprojekt, das Lampedusa-Protokoll genannt. Es ist ein Verfahren, das vor allem auf dem Sammeln von Ante- und Post-Mortem-Daten beruht und auch nun wieder Anwendung findet.
In Mailand hatte die Rechtsmedizinerin die Infrastruktur dafür geschaffen. Kühlzellen für Leichen und menschliche Reste, die wie ein Industrielager automatisiert angefahren werden können. Datenbanken, die all die Informationen über die Toten aufnehmen, Fotos, Beschreibungen, Daten. Studierende, die helfen, die Daten zu den Migranten erfassen, die Fotos abfotografieren, Körpermerkmale vergleichen, die Knochen begutachten.
Die Dottoressa und ich, wir sind inzwischen quasi Freunde, sagt Piscitelli. Ab und an besucht er Cattaneo in Mailand, und wenn sie in Rom ist, treffen sie sich ebenfalls. Piscitelli ist ein höflicher Mensch, zuvorkommend, ein warmherziger Bürokrat, so scheint es. Er sitzt in seinem Büro und zögert, mir seinen Bildschirm zuzudrehen. Diese Präsentation zeige ich normal nicht vielen, sagt er. Dann dreht er den Monitor doch her. Manche könnten diese Bilder nicht ertragen, befürchtet er.
Der Bildschirm zeigt, was man unter post-mortem-Daten zu verstehen hat. Hier, sehen sie, das gleiche Shirt, sagt Piscitelli, und deutet auf das Bild eines toten jungen Mannes. Dann rutscht seine Fingerspitze weiter auf eine Fotografie, die einem Facebook-Profil entnommen worden ist, und die denselben Mann zu Lebzeiten mit einem Freund zeigt. Sein Finger eilt nun über das Rädchen an seiner Maus, die Präsentation rutscht nach oben. Die Zähne sind auch charakteristisch, erklärt Piscitelli weiter, zu einer Aufnahme: Gerichtsmediziner kopieren darauf die Bilder von einem Gebiss über ein Foto einer Person zu Lebzeiten. Ein drittes Bild zeigt einen Fetzen Haut, das Tattoo darauf ist klar zu erkennen. Schuhe, Taschen, T-Shirts, Schmuckstücke, Ohrläppchen, Ohrmuscheln – alles ist wichtig.
Die Arbeit fängt nach der Bergung der Leichen aus dem Schiff eigentlich erst an. Denn nun müssen korrespondierende Daten aus Lebzeiten der Toten gefunden, aufgetan werden. Das Sammeln der Ante-Mortem-Daten ist ein mühsames Geschäft. Bereits in Europa lebende Migranten müssen kontaktiert, Familienangehörige gesucht werden. Bei dieser Arbeit ist besondere Vorsicht vonnöten. Wir verbreiten die Bilder auf geschützten Wegen, erklärt Piscitelli, und nennt die Kirche, das Rote Kreuz, Migrantenvereine als Helfer. Zu ihnen seien auch schon Geheimdienstler aus Eritrea gekommen, die wissen wollten, wer die Identifizierten seien, sagt er. Piscitelli und sein Team gaben ihnen natürlich keine Auskunft. Andernfalls, sagt Piscitelli, andernfalls, das wissen wir, bringt das Regime ihre Angehörigen auf eine einsame Insel und lässt sie dort verrecken.
Piscitelli wollte seine Mission auch auf der politischen Ebene voranbringen. Ein europäisches Amt für vermisste Personen, dazu auf Staatenebene einen Beauftragten wie er einer ist – das wäre seine Idealvorstellung. Doch er musste bald sehen, wie seine Idee an der politischen Realität zerschellte. Ich habe im Oktober 2014 eine Konferenz zu verschwundenen Personen organisiert, sagt Piscitelli. Er hoffte, dass die EU-Kommission sich des Problems annähme, mit einer Direktive könnte sie viel erreichen. Er erhielt Unterstützung von anderen Staaten, doch nicht von den EU-Gremien. Ich kenne die Gründe dafür nicht, sagt er nüchtern, aber Fakt ist, dass Europa dem Thema Flüchtlinge wenig Aufmerksamkeit schenkt. Europa agiere aus Angst, aber nicht mit einer Strategie. Seine Enttäuschung darüber würde er gerne verbergen wollen, kann er aber nicht: Das ist nicht das Europa, für das ich als Schüler brannte, sagt er schließlich. Zuvor hat er lange von den Schätzen und Segnungen erzählt, die die eingewanderten Griechen seiner Heimat Kalabrien brachten.
Vielleicht kommt nun aber doch Bewegung in die Sache. Piscitelli war eingeladen worden, im Januar 2016 vor dem Sicherheitsrat der UN zu sprechen. Er erzählte von den Toten, von den neuen Identifikationsbemühungen in Italien, zeigte seine Präsentation. Wir haben uns mit diesem Problem nicht befasst, habe der Rat gesagt, das war ein Fehler. Wenn Piscitelli davon berichtet, hört man weder Stolz noch in seiner Stimme. Vielleicht auch, weil er nicht der Einzige ist, der seit Jahren auf das Problem der toten Migranten hinweist.
Es gibt Forschungsprojekte zu dem Thema, Journalisten haben angefangen, Presseberichte systematisch auszuwerten, um die Opferzahlen zu sammeln. Erst dank all dieser Leute ist bekannt geworden, dass viele tausende jedes Jahr im Mittelmeer ertrinken. Inzwischen drängt auch die IOM, die weltweit mächtige Internationale Organisation für Migration, auf der Wanderung gestorbene Migranten nicht weiter zu ignorieren. Sie sollten als Opfer von Straftaten behandelt werden, mit allen Verpflichtungen, die sich daraus ergeben.
Das Helfen liege ihm in der Familie, sagt Piscitelli. Seine Großmutter gab sogar deutschen Soldaten, die in Italien wüst gewütet hatten, zu essen. Die Hilfe, die er bringt, ist jedoch nicht immer einfach zu ertragen. Eine eritreische Mutter war aus Deutschland nach Rom gekommen. In einer Polizeistation unweit seines Büros zeigten er und seine Mitarbeiterinnen der Frau Bilder aus ihrer Kartei. Die Frau erkannte ihre vier Kinder darauf, sie fing an zu frieren, brach zusammen. Eine Krankenschwester schenkte ihr eine Ledermütze. Wenigstens konnten wir ihr Gewissheit geben, sagt Piscitelli, und die Möglichkeit, ihre Lieben dorthin zu bringen, wo sie sie am Grab besuchen kann.
Eine Gemeinde in Kalabrien, Tarsia, hat sich schon angeboten, einen Friedhof für Migranten einzurichten. In Tarsia hatten die Faschisten ein Konzentrationslager errichtet mit hauptsächlich jüdischen Inhaftierten. Die Menschen wurden dort vergleichsweise gut behandelt, es wurden drei Synagogen gebaut und eine Bibliothek. Neben dem Gelände gibt es bereits einen Friedhof und ein Areal, das man zu einem Gräberfeld für Flüchtlinge ausbauen könnte.
Bisher sind die Toten aus dem Mittelmeer, so sie gefunden wurden, weit verstreut begraben. Einige der früh geborgenen Toten vom 18. April 2015 sind in Malta bestattet worden. Andere liegen auf sizilianischen Friedhöfen – auch in Syrakus, wo viele der Feuerwehrmänner herkommen, die das Schiff geleert haben. Die Sonne dörrt auch hier das Leben aus, nicht einmal die uralten Bäume mit ihren weit ausladenden Kronen können verhindern, dass das Grün zu ihren Füßen vertrocknet, die Erde ist braun. Nur die Vögel zwischen den Zweigen zwitschern unbeirrt. Der Mann brüllt über die Toten hinweg: Zehn Meter weiter vorne, da sind sie! Der Finger des Friedhofwärters schiebt sich mehrmals in die Höhe, springt über imaginäre Gräberreihen: Die einfachen Steine, ja.
Fünf Gräber hatten er und seine Kollegen vorbereitet. Jetzt erheben sich sechs Hügel nebeneinander. Verwitterte Engel wachen unweit über hundert Jahre alte Gräber, prächtige Kapellen erheben sich, einstmals gleißend helle Männerbüsten mit strengem Blick schauen altersmilde und von Wind und Wetter abgeschliffen unter bunten Flechten hervor. Weiße Steinchen bedecken die sechs noch frischen Hügel; sie können nicht verbergen, dass es sich bei diesen Gräbern um die ärmsten der armen handelt. Einzelne vertrocknete Orchideen zieren die Haufen und leuchtende Plastiksonnenblumen. Die waren alle jung, sagt Giancarlo Pulvirenti, einer der drei Friedhofswärter in Syrakus, Sizilien, aber eine war interessant.
Zwischen den Gräberfeldern führt eine breite Straße direkt auf eine Kirche zu, die unter einem Gerüst vor sich hinbröckelt. Dahinter liegt der Raum mit dem Tisch, auf dem die Toten untersucht werden, die Autopsie. In Italien kommen Ärzte dafür auf den Friedhof. Die fünf Toten, die im April dieses Jahres angeliefert wurden, lagerten zuvor schon eine Weile in der Kühlzelle. Als der Totenarzt die Leichensäcke öffnete, kam auch eine junge Frau zum Vorschein, das Kind in ihrem Bauch mit einer kleinen Nase, Füßen, Armen, fast bereit für die Geburt. Achter Monat mindestens. Pulvirenti stand daneben. Der Arzt nahm Gewebeproben und fertigte Fotos an. Die Friedhofswärter bestellten einen sechsten Stein.
Das Bestattungsunternehmen hat sein Logo in die schlichten Tafeln geprägt, darunter erheben sich schwarze Lettern: „Unbekannter Einwanderer gestorben im Kanal von Sizilien am 18.4.2015“. Der italienische Staat übernimmt alle Kosten. Eine Zeremonie gab es nicht. Wenn nach Beerdigungen noch Blumen übrig sind, legen sie die Wärter auf die Gräber der Unbekannten.
Es kann öde werden mit all den Toten und Trauernden und den Kollegen. Vielleicht deshalb nimmt Giancarlo Pulvirenti einmal am Tag den Weg zur Bar auf sich. Der Friedhof von Syrakus liegt an einer Ausfallstraße, die Autos brettern hier auf dem Weg zur Autobahn vorbei. Die Bar liegt neben einer Tankstelle, innen hat sie den eingezwängten Charme eines Wohncontainers, aber sie ist das einzige Lokal weit und breit. Vier, fünf Leute am Tresen und sie ist voll. Die Betreiber haben daher neben dem Eingang mit durstigen Pflanztrögen der Tankstelle ein Stück Asphalt abgezwackt. Ein Pavillonzelt und rote Plastikmöbel laden mehr oder weniger zum Verweilen ein. Hier liest Pulvirenti Zeitung, schäkert mit dem Barista oder sitzt einfach nur da. Die letzten fünf habe ich in Empfang genommen, sagt er, in einen Stuhl gezwängt. Der Mann stützt seinen Kopf in die Hand. So jung! Das belastet mich.
Seit zwanzig Jahren arbeitet er auf dem Friedhof, er ist den Tod gewöhnt. Aber nicht das. Für einige Gräber hat er die Grabsteine aus eigener Tasche bezahlt. Es ist egal, welche Hautfarbe sie haben, welche Religion. Er redet jetzt erregt, das Thema wühlt ihn auf. Es sind Menschen. Gebt ihren Ländern Unterstützung, gebt ihnen ein würdiges Leben. Die meisten, die kommen, die sind so jung noch, können nicht schwimmen. Der Tod ist ihnen sicher.
Pulvirenti, der ein massig-muskulöser Mann ist und doch jungenhaft, wirkt wie jemand, der sich nicht mehr aufregen kann, der resigniert ist und doch jede Menge Wut in sich trägt. Die Schätzungen von 30 000 Toten im Mittelmeer sollen nur die Leute ruhig halten, ist er überzeugt. Es seien sicher weit mehr als hunderttausend, man müsse das nur mal hochrechnen. Er senkt seine Stimme und den Blick: Der Kanal von Sizilien ist zu einem gigantischen Friedhof geworden. Das muss bekannt werden! Mit seiner Hand streicht er sich über die Wange.
Plötzlich steht er abrupt auf, grüßt, reicht einem seine fleischige Hand und murmelt, dass das verlorene Zeit sei: Die Leute interessiert das doch nicht. Wenn es nicht ums Öl geht oder Gas…
Zwischen Verkehr und Leitplanke stapft er zum Friedhof zurück, zu seinem Kollegen, der im Häuschen für die Wärter Sportnachrichten auf seinem Handy liest.