Nein, nicht. Noch nicht. Andon Shakaj hält den Türgriff seines schweren Geländewagens in der Hand und macht keine Anstalten, die Tür zuzustoßen. Der V6-Motor rumort schon eine Weile nicht mehr, der Wagen ist im asphaltierten Hof des Fabrikgeländes zum Stehen gekommen, doch der kleine Mann daneben bewegt sich keinen Schritt. Eigentlich könnte er jetzt vorangehen, durch das Rolltor, könnte die versprochene Besichtigung der Froschschenkelfabrikation beginnen. Shakaj aber, dem hier alles gehört, hat einen anderen Plan. Hier, hinter beige gestrichenen Betonmauern mit wenigen Fenstern verborgen, wird eine Delikatesse hergestellt, eine Delikatesse, die in Italien und Frankreich die Gourmets glücklich macht. Doch Shakaj will seinen Stolz lieber nicht zeigen. Er will weg. „Steigen wir ein, ich möchte Euch wo hinbringen“, sagt er. Man widerspricht ihm nicht, keiner tut das.
Novoselë, Albanien Juli 2013, Beef
Shakaj setzt den Fuß wieder auf das Trittbrett des Nissans und schwingt seinen kleinen Bauch in die Höhe. Der bullige Kasten soll wohl unterstreichen, wer hier der Chef ist, vielleicht seine sanftmütige Erscheinung übertünchen. Jedenfalls dreht Shakaj den Zündschlüssel im Schloss, der Motor röhrt, irgendetwas quietscht.
Überall in Albanien wird neu gebaut, doch die Straßen in Novoselë im Süden des Landes haben sie vergessen. Die Häuser stehen lose beisammen, am Ortsrand verfällt ein Kuhstall, ehemals Staatseigentum. Unweit des Weges vereinsamt eine Kuh. Über Kies und Staub und Schlaglöcher schaukelt der Wagen, Shakaj ist jetzt guter Laune. „Diese Tankstelle ist die erste, die wir eröffnet haben“, erzählt er nach ein paar Metern, und ob er uns zu einem Kaffee einladen dürfe. In der Bar, die zur Tankstelle gehört, sieht es aus wie in einer Almhütte, alles mit Tannenholz vertäfelt, es fehlen bloß die Gemsen vor dem Fenster. Statt dessen liegt dort braches Land. Shakaj berichtet, dass sein Bruder der Bürgermeister des Ortes ist.
Der Mitsechziger Andon Shakaj wirkt mittelmäßig, im guten Sinne: weder ist seine Stimme auffallend tief noch hoch, nicht sonor noch laut. Seine Statur mit schlank zu bezeichnen wäre beschönigend, ihn dick zu nennen verkehrt. Nicht groß, klein auch nicht. Wenn etwas auffällt an diesem Typen, dann ist es seine Nase, die spitz zuläuft und seinem Gesicht Charakter gibt. Vor vielen Jahren hatte er den richtigen Riecher. „Fahren wir weiter“, sagt er und stellt die leere Espressotasse ab.
Zwei Kaffee, eine weitere Tankstelle, ein Restaurant und eine Olivenplantage später ist klar geworden, warum Shakaj diese Tour so wichtig war: Er wollte zeigen, wer in Novoselë das Sagen hat: seine Familie. Am Ende lädt er die Gäste in sein Wohnzimmer ein, stellt eine Runde Raki auf den Tisch und setzt sich zufrieden hin. Die Wohnung liegt über der Fabrik, das Zimmer ist prächtig, die Sofas ähneln einem Thron, auf dem Tisch und in den Ecken und in der Schrankwand stehen Figuren aus Keramik und Gold oder zumindest mit goldenem Überzug. Sie zeigen Frösche, und es ist seine Art der Dankbarkeit. All seine Macht, all seinen Reichtum verdankt Shakaj dem Getier, das sich in den albanischen Flüssen und Seen prächtig vermehrt, zumindest in der Vergangenheit, das ein klein wenig Fett auf seinen muskulösen Schenkelchen ansetzt, das gefangen, verarbeitet, verkauft und verspeist wird. Das quakende Gold Albaniens, und das nicht erst seit es Shakajs Unternehmen Vival gibt, sondern schon zu Zeiten des Kommunismus. Aber Shakaj bleibt dabei: die Froschproduktion ist tabu. Kein Fremder soll sehen, wie aus den gefangenen Tieren Froschschenkel werden, bereit für Pfanne oder Grill, bereit für das Risotto. Niemand.
Wer sich von den Hohepriestern der Haute Cuisine in Paris die Delikatesse auf den Teller zaubern lässt, weiß es vermutlich nicht: die Frösche, die zu diesen Schenkeln einstmals gehörten, strampelten nicht durch französische Gewässer. Und auch in Norditalien, wo der berühmte Carnaroli-Reis angebaut wird, werden zwar die Körner für die köstlichen Risotti geerntet. Die traditionelle fleischige Beilage in den Lokalen dort, Rana, Frösche also, hat jedoch seit vielen Jahren Balkanwasser im Blut.
Für das kleine Adrialand Albanien waren Frösche schon zu Zeiten des Kommunismus ein willkommener Devisenlieferant. Ein volkseigener Betrieb zahlte Froschfängern gutes Geld für ihre Beute – man kann auch sagen: Schmerzensgeld. Denn die Tiere galten als schmutzig, als niederes Gewimmel. Wer sie aß, machte sich zum Gespött der Leute. Wer sie fing sowieso. Manch einer mag sich damals amüsiert haben, dass sie im Ausland, in Italien und Frankreich, diesen Dreck fressen. Und dem albanischen Staat auch noch viel Geld dafür bezahlen.
Gegensätze tun sich auch heute noch auf: Froschschenkel auf feinstem Porzellan, Restaurants mit gestärkten Tischdecken, samtenen Vorhängen und Kronleuchtern an der Decke in Paris. Andon Shakajs prächtiges Wohnzimmer hier über der Fabrik. Und dagegen Rexhep Arapi in seiner eigenen, einer anderen Welt, die schwarze Stoffhose etwas zu lang, sein Karohemd verwaschen. Jeder Frosch bringt ihm etwa zwölf Cent, pro Kilo drei bis vier Euro. Eines hat sich nicht geändert, Sozialismus hin, Kapitalismus her: Gefangen werden die Tiere immer noch von armen Schluckern. Auf dem Kopf trägt Arapi eine ausgebleichte Kappe, einstmals rot und ein Werbegeschenk der Sparkasse Holstein. Almosen einer Hilfsorganisation, sein Sohn hatte sie geschenkt bekommen.
Rexhep Arapi. 44 Jahre alt. Ein freundlicher Mann, ein guter Mann. Starker Wille, und doch hat er in seinem Leben noch nie auf den Tisch gehauen. Verunsichert steht er da, weiß nicht so recht, was tun. Er möge den Journalisten zeigen, wie man Frösche fängt, hat ihm sein Chef aufgetragen.Nun hat Arapi Angst, seinen Job zu verlieren. Denn sein Oberboss hat etwas dagegen. Und der heißt: Andon Shakaj. Und dem gehört: alles. Was also tun?
Die Leute haben sich damals über ihn lustig gemacht und sie tun es auch heute noch. Froschfänger, haben sie gerufen, und das Gesicht verzogen, als stäche sie jemand mit einer Nadel. Dabei wollte Arapi doch nur ein gutes Leben haben. Mit Froschschenkeln – und trotz ihnen. Kurz vor dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte er mit Freunden Stahltanks zusammengebunden und Holzbretter draufgenagelt. 1990 war das, das Leben war karg. Sie sind gerudert, fünf Tage lang, nach Italien, ins gelobte Land. Sahen ein Schiff am Horizont und freuten sich. Warfen all ihren Proviant über Bord, im Übermut, das Wasser sogar, alles. Aber es war die Küstenwache.
Nach wenigen Stunden waren sie wieder auf dem Rückweg. 14 Mal, sagt Rexhep Arapi, habe er versucht zu fliehen. Später nur noch Richtung Griechenland. Geglückt ist die Flucht nie. Jetzt hat er sich seinem Schicksal ergeben. Es soll wohl nichts Besseres aus ihm werden, er muss weiterhin in aller Frühe auf seinen Roller steigen, zu den Seen tuckern, quaken, damit die Frösche herbeikommen, die Rute auswerfen und die Beute in seinen Sack stecken. Sein Leben ist immer noch karg, doch ohne Andon Shakaj wäre es noch karger. „Frösche sind meine letzte Chance“, sagt Arapi. Seine Flucht endet jetzt öfter im Alkohol. Man riecht den Raki, wenn er am Morgen zur Jagd aufbricht.
Um fünf Uhr fährt Arapi los, den ersten Frosch fängt er mit einem Köder aus einem Fetzen Feinstrumpfhose. Dem Tierchen zieht er die Haut ab und wirft den Rest weg. Arapi bindet ein Stück Hautlappen an die Angelschnur, quakt, als sei er ein echter Froschkönig, holt aus und wirft den Köder weit in den See vor sich. Eigentlich eine Idylle, Schilf und im Hintergrund Berge. Doch im Vordergrund zuweilen leider auch Plastikmüll. Um die Lenden hat Arapi eine Plastikplane gebunden, davor einen bunten Stoffbeutel. Meist dauert es nicht lange, bis ein Frosch nach der fetten Beute schnappt. Arapi hebt dann die Rute in die Höhe, der Frosch schwingt herüber; mit einer geübten Handbewegung zieht er ihn vom Köder ab. Frösche haben keine Zähne, der Erstgestorbene wird so zum Verhängnis für alle anderen Artgenossen an diesem Tag. Nach jedem Neuzugang zappelt es kurz im Stoffsack, doch die Frösche geben schnell wieder Ruhe.
Nach ein paar Stunden ist der Beutel um einige Kilo schwerer. Die Mittagshitze kündigt sich an, die Frösche bleiben jetzt lieber im schützenden Röhricht verborgen. Arapi bindet seinen Beutel zu, verstaut die Beute und fährt davon. Später wird er sie in grüne Netze stecken, diese in Kisten packen und bei Andon Shakaj abliefern. Am Ende des Monats hat Arapi oft soviel wie ein Lehrer verdient. Was keineswegs heißt, dass man als Froschfänger gut verdient. Eher ist es so, dass auch Lehrer in Albanien lausig bezahlt werden. Rexhep Arapi ist einer der treusten Fänger Shakajs. Rund 50 Menschen bringen mehr oder weniger regelmäßig ihren Fang zu seinem Unternehmen Vival.
Die Unterschiede zwischen den beiden Männern könnten größer nicht sein. Shakaj ist mächtig, Rexhep ohnmächtig. Shakaj gibt Arbeit, Rexhep braucht sie zum Überleben. Um ein Unternehmen erfolgreich zu führen, braucht es aber noch einen Dritten im Bunde: einen Repräsentanten. Denn Typen wie Andon Shakaj sind geschaffen zum Schaffen, aber nicht zum Repräsentieren auf internationalem Parkett, ein Arbeitsleben kann man nicht abschütteln. Es klebt an den Händen, an der Haltung, am Habitus. Shakaj, der Minister und Präsidenten und Kunden umgarnt? Er ist ein kerniger Unternehmer, mit Vision und Cleverness, aber kein Edelmann. Dafür hat er Anest Bezhani angestellt, einen älteren Herrn, dem man schon von Weitem seine bürgerliche Herkunft ansieht: elegante Kleidung, stockaufrechter Gang, die Haare nach hinten frisiert, abgeklärte Bewegungen und filigrane Hände. Als Finanzchef, so Bezhanis Titel.
Der Senior erzählt, wie er auf einer Messe in Italien einen Minister mit Fröschen verköstigt hat und auch in Deutschland warb er schon bei Politikern für sein Produkt. In der ganzen Welt ist er unterwegs, auf einer eigentlich aussichtslosen Mission: Für Frösche aus Albanien soll er werben. Doch wenn Leute heute überhaupt Frösche essen wollen, dann aus Frankreich, das ja dafür berühmt ist, maximal noch aus Italien. Aber Albanien? „Serbien hat eigentlich die besten Frösche“, erklärt Bezhani. „Aber die exportiert niemand.“ Er lehnt sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück, vor sich einen Schreibtisch aus Eichenholz, der fast leer ist, und zwinkert. „Das werden wir schon hinbekommen, dass er Euch die Produktion zeigt.“
Alte Schule: kein Computer, ein altmodisches Tastentelefon mit Schnur. Von hier dirigiert Bezhani die Geschäfte der Vival. 100 Tonnen Frösche pro Jahr für Italien, Frankreich und vielleicht einmal die Welt. Das einzig moderne Gerät in dem Raum, die Klimaanlage, verrichtet Schwerstarbeit. Hier drinnen ist es fast so kalt wie einen Stock tiefer im Kühlhaus, wo die Frösche sich in der Winterstarre wähnen, während draußen hinter den Mauern die Hochsommersonne den Boden ausdörrt.
Im Gegensatz zu Bezhani selbst ist sein Büro wenig repräsentativ. Zur Feier des Tages hat er Fahnen auf den Tisch stellen lassen, Europa, Albanien und Deutschland, mit Plastiksockel. Ansonsten ist der Raum nüchtern: Auf dem Sims einer Kaminattrappe liegen ein paar leere Schachteln Aal- und Froschfleisch. Und in der Ecke thront ein gigantischer Plüschfrosch, der knapp über die Kante des großen schweren langen Bürotisches schaut, um den er seine Besucher versammelt.
„Früher habe ich in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft gearbeitet“, berichtet Bezhani. Er hält dabei die Hände zusammen, so dass sich nur die Fingerspitzen berühren. „So habe ich die Familie Shakaj kennengelernt.“ Nach der Wende habe Andon Shakaj die Idee gehabt, mit Froschfleisch zu handeln; sein Bruder hatte für das Staatsunternehmen gearbeitet, er habe sie daher mit den früheren Kunden in Kontakt bringen können.
Das Interesse der Italiener an den albanischen Fröschen sei ungebrochen gewesen, sagt Bezhani, also gründeten sie die Vival. 1994 war das. Später kam ein französischer Zwischenhändler dazu, und so ist es bis heute geblieben: Zwei Mal die Woche macht sich ein Frosch-Transporter auf den Weg nach Italien und Frankreich. In den weißen Styroporkisten in seiner Kühlkammer Froschfleisch – größere Schenkel aufgespießt auf Bambusstäben, bestimmt für den Grill; dazu fertig vorbereitete Froschschenkel lose in der Box sowie lebende Tiere. Sie bekommen von ihrer letzten Reise allerdings wenig mit, denn auch im Kühlwagen wachen sie nicht aus ihrer Winterstarre auf.
Aber was ist nun mit der Besichtigung? Offenbar tobt zwischen dem Grandseigneur Bezhani, 84 Jahre alt, und dem Macher Shakaj, 65 Jahre alt, ein kleiner Machtkampf. „Ihr werdet sehen, wie die Froschschenkel hier hergestellt werden“, wiederholt Bezhani immer wieder. Er wolle nicht, dass die Konkurrenz sich das Verfahren abgucke, sagt Shakaj, und überhaupt, die Frauen, die die Frösche verarbeiten, seien gar nicht da. Außerdem komme es überhaupt nicht in Frage, die Verarbeitung in der Fabrik zu fotografieren.
Die Auseinandersetzung wird schließlich ins Wirtshaus verlagert. Kaffee kommt auf den Tisch. Shakaj zetert, tobt, windet sich – und greift schließlich zum Mobiltelefon. Eine Weile redet er in den Apparat.
„Gehen wir“, sagt Shakaj.
Auf einmal klappt alles. Andon Shakaj geht durch das Tor, wo die Ware angeliefert wird, zeigt die Becken, in denen die Frösche gewaschen werden, die Lagerräume mit den Styroporkisten und Bambusstäben, zeigt die Kisten im Kühlraum mit den lebendigen Tieren in der Winterstarre, den fertig zubereiteten Spieße und den einzelnen Froschschenkeln. Shakaj zeigt die Umkleideräume, öffnet einen Spind, zeigt die Desinfektionsmatte, über welche die Mitarbeiterinnen am Morgen gehen müssen. Und selbst der operationssaalartige Raum, in dem die Frösche zu Froschschenkeln verarbeitet werden, ist kein Tabu mehr. Die angerufenen Mitarbeiterinnen warten bereits. „Ihr könnt ruhig alles fotografieren“, sagt Shakaj, und eine Mitarbeiterin greift zuerst in die Kiste, dann zur Schere. Kurz darauf liegen eine Menge Froschköpfe und -füße in der Edelstahlwanne vor ihr. Die Tiere, direkt aus dem Kühlraum herübergebracht, zucken nicht einmal. Mit geübten Handgriffen zieht eine weitere Mitarbeiterin ihnen die Haut ab, eine dritte Frau puhlt die Innereien heraus und wäscht den Froschrest. Die besonders schönen Schenkel werden auf Bambusstäbe aufgespießt, die anderen in Kisten verpackt, wo sie auf Eis gekühlt werden.
Tags drauf werden die Frösche wieder durch das Rolltor getragen – schön steril, jetzt verpackt in weiße Styroporkisten. Bald lässt der Lastwagen die staubigen Straßen von Novoselë hinter sich, dann das Meer, steuert die Autobahn an. Nach einem weiteren Tag ist die Ware in Paris.
Andon Shakaj erzählt noch aus seinem Leben. Von seiner Jugend und wie er für die Partei gearbeitet hat. Es ist spät geworden. „Wir sind alle Sozialisten hier“, sagt er zum Abschied. Rexhep Arapi würde ihm kaum widersprechen, hat sich doch nichts geändert. Nur dass er sich inzwischen an die Ungleichheit, vor der er zu Zeiten des Sozialismus noch fliehen wollte, gewöhnt hat.