Die Trümmer in und um L’Aquila werden weggeräumt, doch ein Trauma lässt sich nicht so einfach beseitigen. Das schwere Erdbeben in den Abruzzen hat zerbrechliche Menschen zurückgelassen, um deren Seelenheil sich nun Geistliche kümmern – und Psychologen.
L’Aquila, April 2009, Stern
Gott kann so gnadenlos sein, sagen die Leute in dem Camp. Nicht mal seinen eigenen Sohn hat er verschont. „Könnten Sie vielleicht den Kopf nehmen?“, fragt Don Gaetano, nachdem er aus seinem klapprigen Golf gestiegen ist, und weist mit einem schnellen Blick auf den Beifahrersitz. Auf dem Sitz liegt ein Gipskopf, aus dessen Innerem der Rest einer Holzlatte ragt. An der Bruchstelle stehen Splitter ab. Der Kopf bedeute ihm viel, er spreche quasi zu ihm, sagt Don Gaetano, packt seine Sachen und geht davon. Der Gottesdienst fängt gleich an und er muss noch das Zelt richten. Es ist doch Ostern, trotz des Erdbebens.
Der Altar ist ein Biertisch, das Kruzifix der Jesuskopf vom Beifahrersitz, an dem rundherum die Farbe abgeplatzt ist. Der Chorraum war am Mittag noch die Essensausgabe. Hinter Don Gaetano hängt ein Karton, notdürftig an die weiße Zeltplane gehängt, „Pasta“ steht darauf. So sieht es also aus, nachdem das Beben der Erde die Menschen am 6. April aus ihren Häusern in Fossa hierher ins Tal, in die dunklen Notzelte des Katastrophenschutzes, vertrieben hat. In L’Aquila, der Provinzhauptstadt der italienischen Region Abruzzen, und ihrem Umkreis starben dabei fast 300 Menschen. Nur wenige Orte blieben verschont, Fossa nicht. Am Eingang des Dorfs oben am Hang steht ein Schild, das man nicht übersehen kann. „Ort der Glückseligkeiten“ steht darauf. Dahinter liegen Trümmer auf der Straße.
Die Gemeinde vor Don Gaetano trägt größtenteils Jogginghosen. Manche Gemeindemitglieder konnten in Begleitung von Feuerwehrmännern in ihre Häuser gehen und das Nötigste holen. Sie haben schwarze Kleider an, so wie es sich hier in den Bergen an Festtagen gehört. In der bunten Menge, die da auf Bierbänken sitzt, wirken sie deplatziert, genauso wie Don Gaetano in seinem strahlend weißen Ornat. „Jubilaeum A.D. 2000. Christ gestern, heute, für immer“ ist in bunten Buchstaben aufgedruckt, und diese Botschaft hat Don Gaetano längst verinnerlicht.
Unbeeindruckt vom Erdbeben predigt er vom festen Glauben und wie groß der Herr doch ist. Viele Zuhörer haben den Blick gesenkt, stützen ihren Kopf mit beiden Händen, beten unentwegt während der Messe, den Rosenkranz in Händen. Am Ende von Don Gaetanos Predigt bleibt der Eindruck, dass das Erdbeben, diese „schwere Prüfung“, gar etwas Gutes habe. „Der Herr will, dass wir die essenziellen Dinge bedenken. Familie. Liebe. Gerechtigkeit. Brüderlichkeit. Das wird uns zum Frieden führen“, sagt Don Gaetano in seinem weichen Italienisch. Amen. Aber so einfach ist es nicht mit dem Frieden. Seine Gemeinde ist davon so weit entfernt wie Ostern vom Weihnachtsfest.
Ein zweijähriges Mädchen wurde von den Trümmern erschlagen. Das Ortszentrum ist kaputt, das Kruzifix wurde von einem Mauerbrocken geköpft und der Boden gibt noch immer keine Ruhe. Jeder neue Erdstoß weckt Erinnerungen an die grausige Nacht.
Dem Pfarrer nahm das Beben die Kirche. Die Menschen haben in jener Nacht nicht nur Haus und Hab und Gut verloren, ihnen ist etwas weit Größeres, Wichtigeres genommen worden: die Gewissheit, dass das Leben in etwa so weitergeht wie bisher, die Sicherheit, das Vertrauen. Mit Grollen und tiefem Grummeln ist ihre Welt in wenigen, ewigen Sekunden zerfallen: Nun sitzen sie in Zelten und wissen nicht was tun mit der lang gewordenen Zeit. Sorgen sich, wie die Zukunft sein wird. Wie es mit der Arbeit weitergeht, wann sie in ihre Häuser zurück können, ob die italienische Regierung ihr Versprechen hält und ob das Geld tatsächlich bei ihnen ankommt. Oder wird es am Ende so sein wie in Umbrien, wo selbst zwölf Jahre nach dem großen Erdbeben in und um Assisi immer noch Menschen in provisorischen Behausungen wohnen?
Der Bürgermeister muss jetzt im Essenszelt Schilder aufhängen, dass man die Tabletts nach der Mahlzeit doch bitte zurückbringen und nicht auf dem Tisch stehen lassen solle. Das Gemeinwesen funktioniert, aber es steht auf wackligen Beinen. Bei der Verteilung von Hilfsgütern kommt es immer wieder zu Rangeleien. Die Menschen beklagen sich zwar trotz ihrer schwierigen Situation kaum, es ist aber auch auffällig, dass die Klagen mehr werden. Der Bürgermeister der Zeltstadt in Fossa hat nachgedacht, wie man die Hilfsgüter künftig gerecht verteilen könne. Das Ergebnis seiner Überlegung verkündet er vor dem Essenszelt, auf einem weißen Plastikstuhl stehend. Zuvor hat er mit einer Trillerpfeife um Aufmerksamkeit gebeten. Es wäre eine perfekte Szene für eine Komödie.
Padre Quirino hat Humor. „Pfeif noch einmal, der da drüben hört nicht zu“, ruft er dem Bürgermeister auf seinem Billigthron zu. Der Dorfchef blickt irritiert, dann grinst er den Mönch in seiner braunen Kutte an. Padre Quirino ist einer aus Fossa, der Franziskanermönch gehört dazu, selbst wenn er seit einem Jahr nicht mehr im Ort wohnt und davor im Konvent Sant’Angelo zu Hause war, der weit oben in der Höhe auf einem Felsvorsprung prangt.
Wo Padre Quirino hinkommt, wollen ihn die Menschen berühren, ihn umarmen, Telefongespräche werden abrupt beendet, Frauen drücken dem 71-Jährigen einen Kuss auf die Backe, Ciao hier, Ciao da. Wie geht es?, fragen die Leute, und Padre Quirino antwortet, es geht. Oder: Wie auch immer, wir leben. Seine bloße Präsenz, seine wenigen Worte scheinen die Menschen zu trösten.
Eigentlich hat Quirino Salomone, so sein bürgerlicher Name, die Ausstrahlung eines nüchternen, aber herzlichen Wissenschaftlers. Er ist ein Experte für den Papst Coelestin V., den einzigen Papst, der aus eigenem Entschluss aus dem Amt schied. Er ruht in L’Aquila in einem Glassarg in der Kirche Santa Maria di Collemaggio. Die Kirche erlitt bei dem Erdbeben schwere Schäden, der tote Papst dagegen nicht.
Bei seinem Gang durch die uniformen Reihen der Zelte hat Padre Quirino für jeden ein Wort übrig. Er ist ein Priester zum Anfassen, dazu ein Gute-Laune-Macher, so einen braucht man jetzt. Für Kinder hat er Süßes in seinem Kofferraum. Und er gibt die neuesten Nachrichten weiter. Wie steht es denn um die Kirche Santa Maria ad Cryptas?, fragen ihn die Leute. Und, stimmt es, dass der Dom eingestürzt ist? Es sind einfache Fragen, aber keine einfachen Antworten. „Wo war Gott in dieser Nacht“, fragt eine Frau schließlich, der Padre hört diese Frage beileibe nicht zum ersten Mal. „Er war dort, wo wir ihn gelassen haben“, sagt er ruhig. „Wir haben ihn ausgeschlossen.“
Nur ganz selten schimmert durch, dass das Beben auch ihn erschüttert hat, ihn, der immer gefasst und freundlich bleibt und stets das Gute in den Dingen sieht. „Ich muss jetzt erst einmal kapieren, dass wir keine Kirchen mehr hier haben“, sagt er und seufzt. In diesen Tagen hätten ihm die Restaurierungsexperten die Schlüssel für die Kirche zurückgeben sollen, die zum Sitz seines Ordens gehört. „Als ich aus dem Konvent nach draußen kam, hörte ich die Schreie der Studenten im nahe gelegenen Wohnheim“, sagt Padre Quirino. Mehrere junge Menschen sind unter dessen Trümmern ums Leben gekommen. Kurz nachdem der Padre sich gerettet hatte, stürzte der Glockenturm der Kirche mit viel Lärm ein. Seine vier Ordensbrüder hat er am nächsten Tag in andere Klöster geschickt. „Was sollen sie hier, es gibt nichts, nicht einmal einen Schlafplatz“, sagt er. Er selber schlief anfangs im Auto vor dem Kloster. Inzwischen fährt er zu Verwandten an die Adria.
Nach seinem Rundgang eilt Padre Quirino zum Kofferraum seines Wagens und holt einen Kolben Wein heraus. „Den haben meine Verwandten in Chieti selber gemacht“, sagt er und drückt die Flasche dem Bürgermeister in die Hand, bevor er einsteigt. Der Kofferraum ist noch lange nicht leer, der Padre hat noch ein paar Stationen vor sich.
Vor einem Jahr habe man die heilige Antonia aus L’Aquila weggebracht, beklagt eine alte Frau im nächsten Camp. Jetzt habe man ja die Rechnung dafür. Wurde sie nicht nach Paganica gebracht? Und war nicht das Epizentrum ganz in der Nähe von Paganica? „Meine Theologie ist nicht die der Bestrafung, sondern die der Lektionen“, erklärt Padre Quirino dazu, sein Blick ist klar – und müde. Der Mensch muss lernen. Da kann auch die Frau zustimmen. Und dass die Nonnen vom Kloster der Heiligen Chiara der Armen mit ihren Reliquien umziehen, mag man ihnen nicht verdenken.
Das Camp von Valle Sant’Angelo ist sehr gut organisiert und hebt sich von den anderen 32 Zeltstädten ab. Besucher werden am Eingang abgefangen und gefragt, wen sie suchen oder was sie wollen. Hier muss der Bürgermeister nicht auf den Stuhl steigen, es ist eine Lautsprecheranlage installiert, die das ganze Camp beschallt. Die Essenstheke besteht aus Edelstahlelementen und die Toiletten sind keine schmutzige Plastikhäuschen, sondern gemauerte Container mit Bidet und Beleuchtung. Zwischen den Zelten, die auch hier dunkelblau sind und in langen Reihen eines neben dem anderen stehen, sind Stege aus Plastik verlegt. Dieses Camp ist gebaut für eine Ewigkeit, und dessen werden sich die Menschen hier langsam klar. „Jetzt kommt die schwierigste Phase“, sagt Ilaria Mingione. Die 30-Jährige muss es wissen. Für ihre Organisation „Psicologi per i popoli“, Psychologen für die Völker, war sie schon in zahlreichen Krisengebieten tätig und hat viele schwierige Phasen miterlebt. „Wir müssen jetzt die Symptome in Grenzen halten, die mit dem Trauma des Erlittenen einhergehen“, sagt sie.
Auf einer langen Liste sind diese Symptome fein säuberlich aufgeführt. Allein die emotionalen Reaktionen umfassen elf Punkte, zum Beispiel Schuldgefühle, Angst und Schmerz. Auch Alkoholkonsum und Aggression gehören dazu. Ilaria Mingione kann zu fast jedem Punkt eine Geschichte erzählen. Von der Frau etwa, die vor ihrem Kind nicht weinen will, aber weinen möchte, weil sie sich schuldig fühlt – allein deshalb, weil ihr Haus kaum beschädigt ist, andere dagegen zusammengebrochen sind. Die Psychologin lässt das scheinbar nicht an sich heran. Sie muss nämlich funktionieren, die anderen stützen, ihnen bei der Verarbeitung des Geschehenen helfen. Doch in der ersten Nacht hat sie kein Auge zugetan, und noch immer ist ihr Schlaf nicht gut.
Die Geschichte einer Frau, die vor der Hochzeit stand, geht ihr nicht aus dem Sinn. Zu der Feier waren bereits die Eltern des Bräutigams angereist. Jetzt ist die Frau allein. Beim Beben starben ihr künftiger Mann und dessen Eltern. Die Frau wünscht sich sehnlichst, dass ihr Flügel gerettet werde. Er war ein Geschenk ihres Verlobten. Bei einem Haus, das schief hängt, eine lebensgefährliche Aktion. Andererseits, wer wollte ihr diesen Wunsch abschlagen?
Helfer gehen häufig über ihre Kräfte hinaus, oft kommen sie dann danach mit dem Erlebten nicht mehr klar. Vor allem wenn die körperliche Arbeit weniger werde, setze das Abrutschen ein, sagt die zart wirkende Psychologin Mingione. „Vielen wird erst dann klar, dass sie Freunde tot aus den Trümmern gezogen haben oder Kinder.“ Am Ende landen auch sie bei Mingione und ihren Kollegen. Mingione hält diesen Teil der Arbeit für besonders wichtig, wichtiger noch als das Spielen mit den Kindern. „Wenn erst die Helfer zusammenbrechen, bricht hier alles zusammen“, sagt sie. Und es ist kein leichter Teil: Die Helfer glaubten, sagt sie, keine Schwäche zeigen zu dürfen, sie kämen daher oft heimlich in das Zelt der Psychologen.
Die eigentliche Krise steht in Valle Sant’Angelo wie im ganzen Erdbebengebiet erst noch an – dann nämlich, wenn die Menschen anfangen, das, was geschehen ist, zu verarbeiten. Die Psychologen kümmern sich daher um alle; sie betreuen Hilfskräfte, spielen mit den Kindern und beschäftigen neuerdings auch die Erwachsenen, lassen sie eine Bibliothek einrichten, Filmabende organisieren, solche Sachen. Damit sie nicht die ganze Zeit in ihren Zelten hocken. Oder die Erdbebenschäden in der Umgebung besichtigten. Oder fernsehen. Erdbeben 24 Stunden lang, real und im TV.
Letzte Station: die Notunterkünfte im Rugbystadion von L’Aquila, einer der größten Zeltstädte. Padre Quirino ist dort nicht so bekannt wie in anderen Camps und er fällt auch nicht so sehr auf. Auf dem Platz wohnen viele Mönche und Schwestern, die selbst obdachlos geworden sind. Eine Gruppe von Kapuzinermönchen arbeitet im Schichtdienst, um die spirituelle Versorgung sicherzustellen. In diesen Tagen sind einige Schwestern aus ganz Italien als Unterstützung hinzugekommen.
Bei den Fotografen sind die Mönche beliebt; mit ihren Sandalen, den kurzen Haaren und langen Bärten und den Seilen um den Bauch geben sie tolle Motive ab. Und auch bei den Zeltbewohnern kommen die Mönche gut an. „Wir sind ein Symbol für Frieden und Ruhe, auch für Gott und Ernsthaftigkeit“, sagt Frate Emiliano, ein gemütlicher Mensch. Vor der Kapelle der Mönche steht ein Beichtstuhl, der tatsächlich nur ein Stuhl ist. Frate Fabrizio sitzt hier und hört sich an, was sein Gegenüber zu sagen hat, einer nach dem anderen. Frate Emilio geht aber eigentlich lieber gemächlich über den Platz und lässt sich ansprechen, was oft passiert. 30 Jahre ist er alt, der Jim Morrisson seiner Jugend habe Franz von Assisi geheißen, berichtet er und lacht. „Der war so radikal, so einfach.“ Vor zehn Jahren wurde aus Emiliano dann Frate Emiliano, seitdem trägt er seinen Bart länger. Bald will er zum Priester geweiht werden.
Die Rückkehr zum Glauben in diesen Tagen ist groß“, resümiert er bei einer seiner Runden über die Aschenbahn des Stadions. „Viele fragen uns nach Bibeln.“ 500 Rosenkränze hatten die Mönche in ihrer Kapelle, wenn es so weitergeht, wird ihr Material bald knapp. Sie würden gerne echte Kerzen aufstellen, dürfen sie aber nicht, wegen der Brandgefahr.
Frate Emiliano bringt das Thema Gott bei seinen Gesprächen nicht von sich aus ein. „Die Leute kommen hier von ganz allein damit“, sagt er. Wie sehr ihn das freut, lässt sich in seinen Augen lesen. Bevor er über seine Lieblings-Biersorten plaudert, zieht er sein Mobiltelefon aus der Tasche. „Kennst Du dieses Bild?“, fragt er, und zeigt eine Aufnahme aus seiner Sammlung von Jesusbildern, die er im Telefon gespeichert hat.
„Kann ich etwas für Euch tun, braucht ihr etwas?“, fragt später ein Anrufer. „Nein, Jack, wir brauchen nichts“, antwortet der Mönch in sein mobiles Heiligenalbum, „nur Gebete. Betet für die armen Leute hier.“
Vielleicht wären aber doch auch batteriebetriebene Kerzen nicht schlecht. Man weiß ja nicht, wie lange dieses Camp noch nötig ist. Doch die sind in diesen Tagen nicht zu finden, nicht mitten in einem Erdbebengebiet.