Als der Antimafia-Demonstrationszug im Hafen von Messina endlich in Gang kommt und sich zum Dom emporschiebt, steht ein Junge seltsam unbewegt am Straßenrand. Es ist der 21. März 2016. Schon lange wird an diesem Tag in Italien an die unschuldigen Opfer der Mafia erinnert, doch erst seit diesem Jahr ist er ein offizieller Gedenktag. 30 000 Menschen sind aus dem ganzen Land nach Sizilien gekommen. „Die Mafia ist ein Haufen Scheiße“, schreit eine Gruppe von Schülern mit Plakaten in der Hand. „Raus mit der Mafia aus dem Staat!“, eine andere. Auch der Bürgermeister der Stadt ist irgendwo im Pulk unterwegs und diskutiert mit Bürgern. Wie immer bei öffentlichen Anlässen trägt er ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Free Tibet“. Nonnen laufen mit und Punks, manche gedenken schweigend der Toten.
Der Junge aber, nennen wir ihn Calogero, zeigt keine Regung. Steif steht er auf dem Trottoir, zieht eine Zigarette nach der anderen aus der Schachtel. Wie ein Mann will er rauchen: nur die nötigsten Bewegungen machen, den Rücken durchgedrückt, das Haupt erhoben, die Augen verborgen hinter einer Pilotenbrille. Das Feuerzeug führt er cool zur Zigarette. Er fühlt sich sichtlich unwohl hier, aber das sagt er nicht: Calogero ist wortkarg. Etwas mit Mode will er einmal machen; was genau, behält er für sich. Mit Fremden zu sprechen ist er nicht gewohnt und vermeidet es. Ratsam wäre es ohnehin nicht: nicht, wenn es um private Dinge geht, und privat ist in seinem Heimatort so ziemlich alles. Und erst recht nicht, wenn man derlei Bekanntschaften pflegt, wie er es tut. Einmal schiebt der Junge die Sonnenbrille nach oben. Seine großen dunklen Augen würden Wärme ausstrahlen, wären die Gesichtszüge drum herum nicht eingefroren. Schnell fällt die Brille wieder. Er lächelt nicht, nicht hier.
Über Calogero darf nichts in diesem Text stehen, was ihn erkennbar machen würde. Er ist erst 16 Jahre alt, er hat die Zukunft noch vor sich. Wobei das nicht ganz so sicher ist. Denn Calogero kommt aus einem klassischen Mafia-Ort in Kalabrien; manch 16-Jähriger erlebt dort seinen dreißigsten Geburtstag nicht oder wenn, dann im Gefängnis. Einer der mächtigsten Clans der ’ndrangheta, der kalabrischen Mafia, hat in seiner Heimat das Sagen. Viele im Ort sind mit der Bande im Bund. Auch Calogero.
Neben dem Jungen beobachtet ein Mann den nicht enden wollenden Zug. Es ist Enrico Interdonato, Psychologe und 32 Jahre alt, Bärtchen an der Oberlippe und ein Bärtchen am Kinn und dazwischen stets einen Anflug von einem Lächeln. Unter seinem Shirt zeichnen sich Muskeln ab, die auf regelmäßiges Training schließen lassen. Zwei Welten treffen sich hier am Straßenrand: Interdonato ist Mitbegründer eines Antimafia-Vereins in Messina, Calogero auf dem Weg, Mafioso zu werden. Einmütig stehen die beiden nebeneinander.
Beide sind Teil eines Pilotprojekts, „Liberi di scegliere“ genannt, übersetzt: Frei zu wählen. Interdonato, der Psychologe, arbeitet seit dem Start vor vier Jahren mit und kümmert sich um Jungen wie Calogero. Bisher hat das Projekt mehr als ermutigende Resultate gezeitigt: von dreißig Teilnehmern ist keiner mehr kriminell auffällig geworden. Lediglich ein junger Mann zündete bei einem Fußballspiel Rauchbomben und handelte sich ein Stadionverbot ein.
Einer setzt sogar sein Leben dafür aufs Spiel. Roberto Di Bella ist Richter am Jugendgericht in Reggio Calabria. Er ist nicht irgendein Richter, er ist der Präsident des Gerichtes und hat damit sicher einen der schwersten Jobs in ganz Italien, denn Reggio Calabria, die Hauptstadt von Kalabrien, ist ein Hotspot der ’ndrangheta. Weil es der Polizei inzwischen gelingt, die Bosse der Clans schon in jüngerem Alter zu fassen, wird deren Führungspersonal und mit ihnen die gesamte ’ndrangheta immer jünger. Deshalb sitzen am Ende Buben vor Di Bella auf der Anklagebank, die noch in der Pubertät stecken, aber schon Aufträge für Männer erledigen. Buben wie Calogero.
Bei unserem ersten Treffen im Frühjahr sagt Di Bella, er habe lange Zeit nichts anderes tun können als diese Jungen und manchmal auch Mädchen ins Gefängnis zu stecken – obwohl er wusste, dass sie dort wenig Besserung erführen. Im Gegenteil: erst dort bauten sie sich die Kontakte auf, die ihnen später für eine kriminelle Karriere nützlich seien. Einmal bearbeitete er den Fall eines Jungen, dessen Vater einen Arzt töten ließ, weil dieser seine krebskranke Tochter nicht retten konnte. Wer mit solchen Vorbildern aufwächst, hat es später schwer. Ausgerechnet der Sohn eines Bosses brachte den Richter auf eine Idee.
Eines Tages gegen Ende 2003 kam ein Rechtsanwalt auf Di Bella zu. Der Mann sagte, ein Junge, Lorenzo, wolle sich von seiner Mafia-Familie lösen; der Junge zögere aber noch, weil er seine Mutter und seinen sechs Jahre alten Bruder Francesco nicht alleine lassen wolle. Der Vater der Jungen, ein Boss, war bereits tot, Killer hatten ihn in einer Blutsfehde hingerichtet. Der Anwalt kontaktierte Di Bella auch schon deshalb, weil er hoffte, auf diese Weise eine problematische Klientel loszuwerden: schon zwei Autos von ihm waren in Flammen aufgegangen. Auch Lorenzo war kriminell geworden, allerdings ohne sich wirklich schwerer Verbrechen schuldig zu machen. Er besaß lediglich Waffen, ohne die nötige Erlaubnis zu haben.
Bei Di Bella kam ein Denkprozess in Gang, er trug aber keine Früchte, weil der Richter versetzt wurde. An seinem neuen Arbeitsort angekommen, richtete ihm ein früherer Kollege Grüße von Lorenzo aus; dieser hatte, nichts von Di Bellas Versetzung wissend, vor dessen Tür auf ihn gewartet. Einige Zeit später, Di Bella war inzwischen nach Reggio Calabria zurückgewechselt, bekam er erneut Grüße überbracht. Dieses Mal von einer Gefängnispsychologin, die den inzwischen inhaftierten Jungen betreute. Als später auch Lorenzos Bruder verhaftet wurde – der Grund, weshalb der Junge seine Mutter nicht im Stich lassen wollte – beschloss Di Bella, einen radikalen Schritt zu tun. Er wollte den Versuch wagen, Francesco nicht zu bestrafen, sondern fern seiner Heimat unterbringen. Der Junge solle so ein anderes Leben, ein Leben ohne Kriminalität kennenlernen – mit dem Ziel, ihn auf die Seite der Guten zu holen.
Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren, am 6. März 2012, verfügte Di Bella per Dekret, dass Minderjährige, denen in ihrer Familie fortwährend körperliche Gewalt, psychische Quälerei und der Gebrauch von Waffen – also die Existenz des Mafioso – vorgelebt wird, vom Gesetzgeber unter besonderen Schutz zu stellen und aus ihrem Umfeld zu befreien sind. Angewendet werden sollte diese Maßnahme allerdings
erst, wenn ein Jugendlicher straffällig geworden ist. Trotzdem war der Widerstand gewaltig. Die Kirche, viele Politiker, die Mafa sowieso warfen Di Bella vor, er wolle Kinder ihren Eltern entreißen und die katholische Familie zerstören.
Nicht nur die Theorie, auch die Praxis gestaltete sich schwieriger als geplant. Sozialarbeiter, die Di Bella fragte, ließen sich krankschreiben, aus Angst, sich
um den Sohn eines Mafiabosses kümmern zu müssen – auch wenn der schon tot war. Am Ende fand er in der Sozialarbeiterin Maria Baronello und dem Psychologen Enrico Interdonato zwei mutige Mitstreiter, beide aus Messina. Interdonato hatte sein Studium mit einer Masterarbeit über die Psyche der Mafosi verfasst, Baronello, die Seele des Jugendamts der Stadt, ist engagiert, organisiert und hat ein immenses Herz für ihre Schützlinge. Ein ideales Team. Schnell organisierte Maria Baronello eine Unterkunft für Francesco
„Wir wussten damals zuerst nicht, wie wir genau vorgehen sollten“, sagt Enrico Interdonato. „Wir hatten alles gut vorbereitet, am Ende war es aber doch ein Experiment.“ Das Programm hat inzwischen Formen angenommen, es ist mit den Erfahrungen gewachsen: Maria Baronello und Enrico Interdonato bauen ein Netzwerk um ihre Klienten auf, so dass die Jungen auch nichtmafiöse Freunde bekommen. Interdonato geht mit ihnen einkaufen oder abends etwas trinken, in die Disko. Es ist ein niederschwelliges Angebot. Gespräche führt er im Auto oder sogar in der Bar: „Käme man den Jungen mit der Couch, wären sie sofort weg“, sagt er. Das Programm sei keine Therapie, kein Erziehungsprogramm, betont er: „Wir wollen den Jungs eine andere Lebensart aufzeigen, Denkanreize geben. Was sie dann damit machen, ist ihre Sache.“ Francesco folgten zwei weitere Jungen, Calogero ist nun der Vierte, den Enrico Interdonato begleitet. Zudem kümmert er sich um andere Jugendliche, die in Haft sind, allerdings weniger intensiv.
Auch die Verbrechen der Mafia lernen die Teilnehmer des Projekts kennen, allerdings von der anderen Seite: Fester Teil des Programms sind Begegnungen mit Mafia-Opfern. Das führt zum Teil zu absurden Folgen: ein Unternehmer, der Opfer einer Schutzgelderpressung war, bot einem Jungen einen Job an. Auf dem Weg zu einem Treffen mit dem Unternehmer bekam der Junge Schiss: was, wenn die Mafiosi gerade jetzt ein Attentat auf den Unternehmer verüben würden?
Empathie zu üben ist wichtig. Calogero zum Beispiel erarbeitet derzeit mit anderen Jungen ein Theaterstück. Er musste dazu auch länger in Umarmung mit einem Jungen verharren. Schwulenscheiß, würde man in seinem Heimatort ätzen. „Es war eine schöne Erfahrung“, sagte Calogero im Anschluss. Die Begegnung hatte tatsächlich Empfindungen in ihm geweckt. Die Sache schien gut zu laufen, seine Entwicklung war positiv.
Enrico Interdonato ist ein unerschütterlicher Optimist. Vielleicht muss man das auch sein, wenn man sich, wie er es nennt, derart mit einer Welt des Todes, mit einer Welt tief verankerten Leidens konfrontiert wie er. Es bleibt nicht bei der Arbeit mit den Klienten. Teil des Programmes ist es auch, mit den Eltern der Jungen Kontakt zu pflegen. Der Richter Di Bella sagt, die Angehörigen lernten in dem Programm den Staat erstmals auch als fürsorglich kennen, nicht als Feind. Als jemanden, der ihre Kinder schützen wolle. Enrico Interdonato hält den Kontakt auch, nachdem die Jungen volljährig sind und aus dem Programm ausscheiden.
Eines Tages zeigt er mir stolz ein Bild auf seinem Handy. Er hält darauf einen Säugling auf dem Arm. „Das ist der Sohn von Francesco!“, sagt er und freut sich. „Er, der Sohn eines Bosses, vertraut mir sein Kind an, das ist schon etwas Besonderes!“ Interdonato telefoniert nicht nur mit den Eltern seiner Klienten, er besucht sie auch zuhause. „Wir erfahren so viel über die ’ndrangheta, quasi aus der Innensicht. Das ist eine Perspektive, die sonst niemand hat“, sagt er. Er will sich nicht als Wissenden rühmen. Sondern unterstreichen, dass diese Innensicht für das Verständnis der Verbrecherbande wichtig ist. Beispielsweise weiß Interdonato inzwischen, dass es den Mafiaboss mit psychischen Problemen tatsächlich gibt. Namen nennt er natürlich keine. Er sagt nur: „Das Leiden, dass die Mafia auch für ihre Mitglieder schafft, hat natürlich Folgen.“
Als ich den Richter Di Bella einige Monate später wieder treffe, hat sich viel verändert. Der 53-Jährige ist immer noch der bescheidene Mann, der sich nicht in den Mittelpunkt stellt, der aufmerksam zuhört. Auch seinen Humor hat er nicht verloren. Aber er kommt nicht allein zur Fähre. Ein Mann bleibt immer in seiner Nähe, beobachtet die Umgebung. Mit einer ledernen Tasche unter dem Arm ist der Richter auf dem Weg zu einem Termin. Sein Kalender ist voll, Di Bella schlug daher vor, die Überfahrt von Kalabrien nach Sizilien für das Gespräch zu nutzen.
Zuerst fand sich ein Zettel mit einem Spruch, den man noch abtun konnte. Als nächstes legte ein Mann eine Pistole vor dem Gericht ab, nicht ohne vorher und im Blick der Überwachungskameras auf das Gebäude zu zielen, seelenruhig und professionell. Später stellte sich heraus, dass es sich um eine Spielzeugpistole handelte. Doch die Botschaft war mehr als deutlich. Nachdem ein Projektpartner einen Brief mit sechs Pistolenkugeln empfangen hatte, war für Zweifel kein Raum mehr. Der italienische Staat stellte Di Bella eine Eskorte zur Seite.
Der Richter ist nicht mehr alleine, was gut ist, denn Italien ist ein Land, in dem Symbolik viel zählt, zumal in Süditalien. Dieser Mann ist einer von uns, er steht unter dem Schutz des Staates, lautet die Botschaft, die der Personenschutz aussendet; wer sich mit ihm anlegt, legt sich mit uns an. Zugleich verliert Di Bella damit aber auch ein Stück Freiheit. Wenn er jetzt einkaufen gehen will, muss er vorher anrufen. Will er einen Film im Kino schauen, geht er in männlicher Begleitung.
Darüber sprechen möchte Di Bella nicht. Wir haben uns im hinteren Bereich der Fähre auf die kunstledernen Sessel gesetzt, wo wenig los ist. Blaue Jeans, dezentes Hemd, Krawatte: Der Mann inszeniert sich nicht, eine schmale Sonnenbrille ist das einzig auffällige an ihm. Di Bella stellt seine Aktentasche zwischen sich und seinen Bodyguard. Der Bodyguard überzeugt sich, dass die Lage ruhig ist und widmet sich dann seinem Handy. „Was wir tun, ist natürlich nicht bei allen wohlgelitten“, sagt Di Bella, „im Gegenteil, es stört viele, denn diese Aktivität berührt den Kern der Familien.“ Da die Clans der ’ndrangheta zu einem Großteil auf Blutsverwandtschaft basieren und die Macht meist innerhalb der Familie weitergegeben wird, ist das heikel.
Di Bella überredet niemanden. Allerdings nennt er die Dinge klar beim Namen. „Was ist das denn für ein Leben, versteckt unter der Erde, im Bunker. Du hast Millionen Euro, sie bringen dir aber nichts. Willst du so leben?“, fragt er die Jungen manchmal. Sein Programm hat Dynamiken in Gang gesetzt. Einige Mütter kommen jetzt von sich aus zu ihm, heimlich, und bitten ihn, ihre Söhne ins Programm aufzunehmen. Manche Mütter zieht es mit ihren Kindern fort in ein neues Leben. Nicht immer sind diese Dynamiken berechenbar – etwa wenn inhaftierte Männer nicht tolerieren, dass ihre Frau die Kinder dem Programm anvertrauen möchte, um ihnen Haft oder gar den Tod zu ersparen.
Einige Zeit nach der Demonstration treffe ich Enrico Interdonato wieder. Er freut sich, dass Calogero sich öffnet und Fortschritte macht. Im September, sagt Interdonato, wolle er gemeinsam mit Calogero das Fest der Heiligen Madonna von Polsi besuchen. Zu einem guten Stück ist es Neugier, die den Psychologen antreibt, er möchte die Welt seiner Klienten nicht nur besser kennenlernen, sondern auch besser verstehen. Später kündigt er in seinem Facebook-Profil dazu an, dass man ihn bald beim Tanzen der Tarantella sehen werde.
Der ursprüngliche Geist des Festes war, aus den umliegenden Orten zu Fuß über die Berge nach Polsi zu pilgern, oft sogar barfuß. Der ursprüngliche Geist war auch, dort Ziege zu essen. Die Tiere wurden lebend zur Bergkirche getrieben. Beim Fest suchte sich jede Familie ein Tier aus, vor den Augen aller wurde es dann mit einem Halsschnitt getötet. An manchen Stellen stand das Blut zentimetertief. Solche Bilder prägten das Bild der Feier zu Ehren der Madonna, und das ist ja auch nicht ganz verkehrt für ein Fest, das die ’ndrangheta für sich proklamiert hat.
„Es berührt mich, jetzt nach Polsi zu fahren“, sagt Interdonato auf der Fähre nach Kalabrien, an der Reling stehend. Er war noch nie dort. Es ist Anfang September, die Spätnachmittagsonne legt warmes Licht über das Passagierdeck. Das Wasser der Meerenge glitzert, sofern sich nicht eine der Wolken vor die Sonne schiebt. Als Kalabrien schon näher ist als Sizilien entfernt, setzt Interdonato sich abseits und nimmt sein Handy heraus. Ich sehe, wie er überrascht schaut und schnell etwas sucht. Später erklärt er mir, er habe soeben die Nachricht gesehen, dass der Vater eines Jungen festgenommen worden sei, ein Drogendelikt, Marihuana. Interdonato schaut in der Anrufliste, wann er zuletzt mit dem Mann gesprochen hat, findet den Anruf aber nicht.
Die Kirche der Madonna di Polsi, das Ziel der Wallfahrt, liegt mitten in den Bergen, dort aber in einem Tal. Als wir ankommen, ist es bereits düster. Wir haben mehrere Polizeiposten passiert, am letzten erklärte man uns, dass es entlang des weiteren Weges keine Parkplätze mehr gäbe. Deshalb steht unser Auto nun direkt neben zwei Jeeps der Carabinieri. Wir gehen über die Erdstraße zu Fuß weiter hinunter Richtung Kirche, vielleicht zwei Kilometer. Bald ist es Nacht geworden und die Kirche leuchtet orange zu uns herauf. Wir konzentrieren uns auf den Weg, der immer wieder grobe Steine oder tiefe Rinnen für uns bereithält. Bis vor wenigen Tagen war er noch gar nicht passierbar, schwere Regenfälle hatten ihn unterbrochen. Es hat sich noch nicht herumgesprochen, viele Pilger reisten deswegen gar nicht erst an.
Jetzt tauchen manchmal dunkle Gestalten wie aus dem Nichts vor uns auf. Neben der Straße eine endlos lange Schlange von Autos, unterbrochen nur von Zelten. Auf halber Strecke hat eine Pilgerfamilie eine Decke über die Motorhaube ihres Autos gelegt und im Schein einer Leuchte Essen darauf angerichtet. Oft stehen kleine Grüppchen zusammen. Man hört die Tarantella, einen urtümlichen Tanz, selbst gespielt mit Akkordeon und Tamburin.
Das metallene Gittertor, das den Kirchplatz abtrennt, steht weit offen. Vor sechs Jahren filmten hier die Carabinieri mit versteckter Kamera die Ankommenden. Einige Meter weiter, zu Füßen einer Säule, auf der die Statue der Heiligen Mutter thront, sprachen die Bosse über eine Neuorganisation und krönten den Boss der Bosse. Auch hier war die Polizei über alles im Bilde. Diese Aufnahmen führten zu mehreren komplexen Ermittlungsverfahren mit mehr als 400 Festnahmen. Auch die im März 2016 erfolgten Verhaftungen in der Schweiz gehen darauf zurück. In diesem Jahr sind wieder Polizisten in Zivil auf dem Fest unterwegs. In seiner Predigt verurteilt der Bischof mit deutlichen Worten die Verbrecherbande und weist darauf hin, dass die Kirche eine feste Videoüberwachung installieren ließ, um die Schurken fernzuhalten.
Nach einem Gebet startet die Prozession. Priester verteilen Kerzen unter den Pilgern. Starke Männer schultern die Statue der Heiligen Maria und tragen sie durch den kleinen Ort, der im Wesentlichen aus der Kirche und einem angebauten Konvent besteht, dem jedoch die Mönche ausgingen. Die Madonna zieht einen leuchtenden Pulk hinter sich her. „Maria lebe!“, singen die Frauen.
Interdonato hat sich eben ein Brötchen mit zerlassener Salsiccia geholt, eine scharfe Schweinefleischwurst. „Lass uns da drüben einen Platz suchen“, schlägt er vor. Neben dem Grill, auf dem die Würste brutzeln, haben die Verkäufer ein paar Tische und Bänke aufgeschlagen, dunkle Plastikplanen grenzen die Fläche ab. Wir scherzen, wenn wir Calogero jetzt nicht finden, weil er betrunken irgendwo im Wald liege, dann funktioniere das Programm, und lachen. Um die Nachbartafel sitzen etwa zwanzig Männer, alle in den Zwanzigern. Schließlich kommt ein weiterer junger Mann an den Tisch, vielleicht etwas älter als die Runde, Anfang dreißig. In seinem schwarzen Trainingsanzug sieht er unscheinbar aus. Dennoch stehen die Männer nacheinander auf, geben ihm die Hand und gehen weg. Am Ende setzt sich der derart Gehuldigte mit zwei Freunden an den nunmehr leeren Tisch. Einer der dreien blickt streng zu Interdonato herüber. Es wird ungemütlich im Zelt. Interdonato schluckt schnell den letzten Bissen seines Brötchens hinunter, dann stehen wir auf und gehen.
Inzwischen ist es halb elf. Calogero hat sich seinem Betreuer immer noch nicht gezeigt, dafür aber ein anderer Bekannter, Pasquale. Der sagt, er sei mit Calogero zum Fest gekommen, habe ihn dann aber aus den Augen verloren. Interdonato ist über diese Bekanntschaft Calogeros nicht sonderlich glücklich und klärt mich kurz über Pasquales Strafakte auf. Hinter uns tobt die Tarantella. In einem Kreis auf dem Platz vor der Kirche tanzen immer zwei Personen miteinander, auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Männer klopfen den immergleichen Rhythmus in ihr Tamburin und ziehen und quetschen Akkorde aus ihrem ihr Akkordeon. Die Musik bricht nie ab, die ganze Nacht nicht. Wird einer der Instrumentalisten müde, übernimmt ein anderer seinen Platz. Auch die Tänzer wechseln ständig. Ein Maestro di Ballo holt in schneller Folge neue Leute in den Kreis. Interdonato hält einen Sicherheitsabstand zu ihm. Er hatte gehofft, mit Calogero und seinen Eltern die Tarantella zu lernen, hinter verschlossenen Türen. Jedes Dorf der Umgebung hat einen Raum in den Häusern rund um die Kirche zur Verfügung. Dort wird gefeiert, gelacht und getanzt – aber nur, wenn man von jemandem eingeladen wird. Ansonsten bleibt die Tür zu. Und da weder Calogero noch seine Eltern irgendwo zu sehen sind, bleibt Interdonato nur das Zuschauen vor der Kirche.
Dann endlich entdeckt er Calogero. Der Junge hatte sich ebenfalls in die Runde auf dem Kirchplatz eingereiht. Natürlich nicht um zu tanzen, sondern um zuzuschauen. Interdonato steuert auf ihn zu. Calogero ist mit einem Cousin gekommen, den Interdonato ebenfalls kennt: Ferdinando, er war Calogeros Vorgänger. „Cousin“ ist in Kalabrien ein weit gefasster Begriff, der eher die Nähe als den tatsächlichen Verwandtschaftsgrad bezeichnet: Calogero hat rund zehn Onkel und Tanten, dementsprechend viele Dutzend Cousins. Zweiten oder dritten Grades ist fast jeder hier mit jedem irgendwie verwandt, aber nicht jeder nennt den anderen Cugino, Cousin. Ferdinando jedenfalls ist beides, Cousin und Freund. Er hatte den besorgten Calogero damals beruhigt, als er in das Pilotprojekt kam: „Du kommst zu Enrico, der ist okay“, sagte er.
Interdonato begrüßt alle in der Runde mit Umarmung und angedeuteten Küssen auf die Backe, wie es hier Usus ist. De facto presst man einfach kurz die Wangen aneinander. Interdonato redet mit Calogero und Ferdinando, Small Talk, mehr nicht. Calogero steckt sich eine Zigarette an. Auch auf seinen Facebook-Bildern ist er fast nie ohne eine zu sehen. Einmal entschuldige ich mich, weil ich ihm aus Versehen Rauch ins Gesicht geblasen habe. Er lächelt. Überhaupt wirkt er viel lockerer, steht nicht mehr so steif da. Sei es, weil er mit Freunden hier ist, oder im Programm gelernt hat, sich zu öffnen – man weiß es nicht. Später will er uns zum Kaffee einladen, dann löst sich die Runde aber doch einfach so auf.
Wir schauen noch eine Weile der Tarantella zu und bestaunen die Jungen, die abseits paarweise Murra spielen. Beide Spieler zeigen mit den Fingern blitzschnell eine Zahl zwischen Null und Fünf an und rufen gleichzeitig das Gesamtergebnis. Es scheint auch zum Spiel zu gehören, möglichst schrill zu schreien und das Gesicht zu verzerren, als wolle man einem Rivalen gleich das Herz herausreißen. Schließlich legen wir uns wie viele andere im Konvent auf den Steinboden zum Schlafen, spüren, wie die Kälte in uns kriecht und schlafen dennoch ein.
Am Morgen treffen wir Calogero und den Cousin wieder. Die beiden Jungen sehen müde aus, ihr Blick ist langsam. Calogero hat wieder eine Zigarette im Mund. Wir haben nicht geschlafen, sagt er lässig und stolz. Interdonato schlägt vor, dass Calogero und ich uns auf Facebook anfreunden. Calogero hat nichts dagegen. Er hält die Kippe spitz zwischen Daumen und Zeigefinger, nimmt drei schnelle Züge, führt die Hand hinter den Rücken und lässt den Stummel fallen.
Meine Anfrage tags drauf bleibt unbeantwortet. Enrico meint, es falle Calogero vielleicht leichter, wenn sein Vater bei dem Gespräch dabei wäre. Man dürfe nie vergessen, dass der Junge mit seiner Fassade zwar selbstsicher wirke, im Grunde aber komplett verunsichert sei, weil nicht nur seine Lebensart, sondern seine ganze Identität in Frage gestellt werde. Sein Vater sagt der Sozialarbeiterin Maria Baronello, er überlasse es seinem Sohn, ob er mit Journalisten sprechen wolle. Am Ende will Calogero nicht und sein Vater auch nicht, obwohl er eigentlich recht offen wirkte.
Schließlich ist es Sonntagabend, über das Meer schleicht die Nacht heran. Interdonato hat sich einen Nachmittag Auszeit am Strand unter dem Leuchtturm von Messina gegönnt, ein paar Freunden Hallo gesagt und das letzte goldene Licht genossen, bis die Sonne komplett hinter den Bergen verschwunden war. Die meisten Badenden sind schon lange gegangen, Angler haben ihren Platz eingenommen. Es ist zwar erst Anfang September, dennoch wird es bereits um acht Uhr abends dunkel. Seit Mitte August steht in Italien das öffentliche Leben still, eine Art Staatsferien. Am nächsten Tag wird es wieder in Schwung kommen, vielleicht hat sich der Strand deswegen so schnell geleert.
Vor ein paar Jahren wurde auf diesen Strand eine Art gigantischer Strommast mit roten Positionslichtern gesetzt, der Pilone. Auf der Gegenseite, in Kalabrien, steht ein Zwillingsturm. Die Ungetüme markieren die engste Stelle des Stretto, der Meerenge zwischen Kalabrien und Sizilien. Nur drei Kilometer liegen hier zwischen den beiden Regionen, aber auch ein Meeresgraben, der bis zu 2000 Meter tief ist. Das Wasser wirkt ruhig, wenn nicht gerade ein Containerschiff vorbeikommt und Wellen macht. Tatsächlich herrscht hier aber eine starke Strömung.
Im Hintergrund erklingt Housemusik von der Strandbar.
Bevor er nach Hause geht, will Interdonato noch ein Bier trinken gehen. In einer Bar unweit des Doms erzählt er mir, wie sie für das Programm kämpften, kämpfen müssten. Ende Juni hatte er seine Arbeit vor dem ständigen Mafia-Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments vorgestellt. Die Abgeordneten hatten zuerst Di Bella eingeladen, dann ihn, um mehr über die praktische Seite des Programms zu erfahren. Stolz, vor dem hohen Haus sprechen zu dürfen, das war er schon.
Doch mit solchen Treffen verbindet er zwiespältige Gefühle. Er hat das Programm schon öfter vorgestellt, bei Psychologentreffen, im zuständigen Ministerium. Alle lobten es immer, hätten warme Worte für ihn übrig. Nur dass das Pilotprojekt endlich zu einem festen Bestandteil der Jugendjustiz wird, das nicht mehr an einzelne Personen gebunden ist, dass für das Projekt Leute ausgebildet werden, es institutionalisiert wird – das ist nicht in Sicht. „Ich wünschte mir, dass jemand an den entscheidenden Stellen mal die Courage hätte, sich für „Liberi di Scegliere“ einzusetzen und das Projekt durchzuboxen“, sagt Enrico. Stattdessen aber wird in Italien über eine Abschaffung der Gerichte für Minderjährige geredet und deren Eingliederung in die normale Struktur. „Wenn ein Jugendlicher ein Delikt begeht, kann man mit dem nicht umgehen wie mit einem Erwachsenen. Das ist etwas ganz Anderes!“, schimpft Enrico.
Enrico geht es auch um Geld. Seit Anbeginn arbeitet er ehrenamtlich für das Projekt, in seiner Freizeit. Weil er davon überzeugt ist. Nicht einmal den Flug nach Rom zum Mafiaausschuss bekam er bezahlt. Ich erlebe ihn müde in diesen Tagen. „Es gäbe hier so viel zu tun“, sagt er. Man könnte das Programm auf ganz Italien ausweiten, schließlich hat sich die Mafia längst auch im Norden festgesetzt. Gerne würde er Kollegen für die Aufgabe vorbereiten, er sei jetzt aber in einem Alter, wo er sich eine Existenz aufbauen müsse. Nur ist es ungewiss, ob das im Rahmen von „Liberi di scegliere“ überhaupt möglich sein wird. Im Grunde bleiben ihm, Di Bella und den anderen Mitstreitern nur noch drei Jahre, um das Projekt fest in der italienischen Justiz zu verankern. Dann geht Di Bella in Rente.
Interdonatos Telefon klingelt. „Ah, Presidente, guten Abend“, sagt Enrico und formuliert mit seinen Lippen stumm den Namen des Anrufers. „Danke, mir geht es gut.“ Der Presidente fragt ihn nach seiner neuen Wohnung, die er bald beziehen wird. „Schau“, sagt Interdonato und verbessert sich dann rasch: „Schauen Sie.“ Obwohl der Richter und er seit Jahren eng zusammenarbeiten, sind sie beim „Sie“ geblieben. Wie es in Polsi war, fragt Di Bella. Interdonato berichtet von seinem Ausflug. Di Bella, fragt auch nach Calogero, ob es Neuigkeiten gebe.
Calogero wird in diesem Schuljahr wohl nicht versetzt, vielleicht bricht er die Schule ab, einen Job hat er in Aussicht. Es sei normal, dass die Entwicklung der Jungen im Programm nicht immer linear verlaufe, sagt Interdonato. Und jedes Mal, mit jedem neuen Jungen, beginne eine neue Wette auf das Gute im Menschen. Wie die Wette bei Calogero wohl ausgehe, frage ich. Interdonato zeigt auf sein Smartphone. „Hier drin ist ein Bild, das ich dir gerne zeigen möchte“, sagt er, er dürfe das aber nicht, um die Identität des Jungen zu schützen. Er habe es am 21. März aufgenommen, nach der Antimafia-Demonstration, am frühen Abend. Auf dem Bildschirm sehe man zwei Personen, Calogero und neben ihm einen älteren Herren, im Hintergrund die Menschenmenge. Der ältere Herr auf dem Bild sei Don Luigi Ciotti, der berühmte Antimafia-Kämpfer. Calogero habe gewollt, dass Interdonato ein Foto von ihm mit dem Priester mache. Warum ihm das Bild so wichtig sei, frage ich. Er beugt sich vor, schaut mich an und sagt dann langsam: „Weil Calogero auf dem Bild lächelt.“