Obereisesheim, 5.10.2011, Kontext: Wochenzeitung
Alle paar Jahre kam der Krieg in meine Kindheit. Kettenrasseln und Motorengeknatter kündigten ihn an; in der Küche klirrte das Geschirr, wenn die Militärmaschinerie einrollte. Wir eilten dann zur Dorfstraße, standen im Pulk und beobachteten neugierig die Panzer. Manche winkten. Wir Kinder waren fasziniert, aber ehrlich gesagt wussten wir nicht warum. War es die schiere Größe? Die Abwechslung? Ich weiß es nicht. Mir jedenfalls hatte man nie Panzermodelle und Maschinengewehre aus Plastik geschenkt. Das Töten war mir stets suspekt – und sei es auch nur als Spiel.
Der Krieg bei uns im Ort war ebenfalls nur ein Spiel, auch wenn die Soldaten echt waren.
Am Ende des Spiels lagen Erdbollen auf dem Asphalt im Dorf. Mal kamen die tarnfarbenen Männer nur von der Bundeswehr, mal war es die Nato, die hinter unserem Dorfwald Krieg spielte. Manche Soldaten hatten einen Helm mit merkwürdigem Gestrüpp auf dem Kopf, die Gesichter dunkelbunt angemalt. Anderswo hätte mir das Angst gemacht. Hier, am helllichten Tag mitten im Ortszentrum, kamen mir die Kämpfer wie eine lustige Trachtengruppe vor.
Um das Verhältnis von unserem Ort zum Krieg zu verstehen, hilft ein Blick auf die eigene Familie: Mein Opa hatte drei Geschwister: Marlies heiratete einen GI, um der Enge ihrer Heimat zu entkommen. Oskar und Ernst sind im Krieg geblieben. Das klang so harmlos. Sie seien gefallen, sagte man mir als Kind. Ich hielt das für nicht sonderlich schlimm. Fallen, das konnte jedem mal passieren. Mein Opa selber arbeitete für die NSU Werke. Das Unternehmen baute das Kettenkrad, eine kleine geländegängige Zugmaschine. Mein Opa war deshalb ein kriegswichtiger Mann und musste nicht in den Kampf. „Es war nicht alles schlecht, was der Hitler gemacht hat“, sagte er zeitlebens und vergaß dabei offenbar, dass er um Oskar und Ernst geweint hatte. Nie war er an der Front. Doch auch er erzählte immer von damals. Vom Krieg.
Der echte Krieg war meinem Ort lange ferngeblieben. Er kam erst mit den Flächenbombardements im Jahr 1944 über uns. Die Alliierten steckten mit ihren Bombern quasi die ganze Gegend in Brand. Sie hätten sich in den Rainkellern versteckt, berichtete mein Opa, man habe Angst vorm Russ gehabt bis dann der Ami gekommen sei. „Hermann, jetzt erzähl doch nicht immer die gleichen alten Geschichten“, fuhr ihm meine Großmutter dann über den Mund. Selten klang es liebevoll.
Es dauerte lange, bis ich merkte, dass der Krieg sich auch in mein Leben gebohrt hatte, in meinem Alltag präsent war, obwohl ich viele Jahre nach dem Krieg geboren wurde. Einmal träumte ich von Panzerkämpfen im Wiesental beim Neckar, wo ich oft mit einem Freund spielte. Just als ich erschossen wurde, wachte ich auf. Die Panzer, die durch unseren Ort rollten, waren zwar bald zu einer fernen Kindheitserinnerung geschrumpft. Der Gedanke, mit einer Atomrakete könnte mein Leben binnen Sekunden zu Ende sein, hatte sich dagegen fest in den Windungen meines Gehirns verkantet. Mir ist die Angst, die ich empfand, als einmal früh an einem Sonntagmorgen die Sirene auf dem Rathaus jaulte und einen ABC-Krieg ankündigte, immer noch gegenwärtig. Die Tonfolge war uns vertraut, weil die Sirenen regelmäßig auf ihre Funktionstüchtigkeit getestet wurden. Das war wichtig, denn wenige Kilometer von meinem Ort entfernt, in Heilbronn, unterhielten die Amerikaner ein großes Raketendepot. Im Boden der friedlichen Waldheide waren Silos eingelassen; tiefe Röhren, in denen Pershing-II-Raketen standen, jederzeit abschussbereit. Jede einzelne konnte mit ihrem Atomsprengkopf ganze Landstriche ausradieren. 38 Raketen waren in Heilbronn stationiert, 70 weitere in anderen Teilen Deutschlands, die meisten davon in Baden-Württemberg. Einige von ihnen fuhren die Amerikaner auf mobilen Abschussrampen durch die Region.
Auch die Abkürzung ABC war uns vertraut. Bei uns in der Gegend wussten alle, für was sie steht: Atomar – Biologisch – Chemisch. Für Massenvernichtungswaffen also, WMD, wie man das heute herrlich abstrakt benennt. Wir wussten, dass wir wegen der Pershings auf der Liste der zu vernichtenden Ziele der Ostblock-Staaten ganz oben standen. Und wir fragten uns öfter, welchen Sinn es eigentlich hatte, uns mit Sirenen zu warnen, wo doch eh klar war, dass wir im Falle des Falles in den Bunkern verrotten würden und eh keine Überlebenschance hätten.
Meine Schwester und ich kauerten mit meinen Eltern in deren Ehebett. Das Geheul der Sirene draußen wollte nicht verstummen. Meine Schwester, damals schon sehr klug als Teenager, sagte: „Wenn die Rakete jetzt unterwegs ist, sind wir in sieben Minuten tot.“ Vielleicht waren es auch dreizehn Minuten, so genau weiß ich das nicht mehr. Meine Schwester ist einige Jahre älter als ich und hatte sich bereits mit den Möglichkeiten eines atomaren Erstschlags vertraut gemacht. Sie kannte die Abläufe, wusste, was passieren würde. Sie war es auch, die vorschlug, das Radio anzuschalten, wie man das im Fall eines bevorstehenden Atomkrieges tun sollte. Allein der Moderator im Radio wusste uns nichts zu sagen. Jedenfalls starrte ich auf den Wecker und zählte die Minuten. Auch, nachdem sieben und dreizehn Minuten vergangen waren, war immer noch alles wie zuvor und doch ganz anders. Nur dass die Sirene weiter dröhnte. Es dauerte quälend lange, bis schließlich über Radio Entwarnung gegeben wurde. Ein Fehler in der Sirenensteuerung war es gewesen.
Einmal hätte nicht viel gefehlt und meine Heimat wäre durch friendly fire, wie man es heute nennen würde, dem Erdboden gleichgemacht worden. In Heilbronn auf der Waldheide geriet eine Rakete in Brand, ich war neun Jahre alt. Abgerissene Teile und Flammen zischten durch die Luft. Drei Soldaten starben, deutlich mehr erlitten Verletzungen. Wenige Meter neben der Brandstelle lagerten Pershing-II-Raketen. Mit Atomsprengköpfen bestückt. Ein anderes Mal schlug eine Atomrakete nach einem Verkehrsunfall im Straßengraben auf. Es passierte gar nicht so selten, habe ich unlängst gelesen, dass Atombomben herunterfallen und Beulen abbekommen. Bisher ist nur noch nie etwas Schlimmeres passiert.
An Ostern suchten andere Kinder Eier, wir den Weltfrieden. Meine Schwester, meine Eltern und ich gingen dann auf die Waldheide. Am Stadtrand von Heilbronn war die Sammelstelle, dann zog ein langer Lindwurm aus regenbogenbunten Menschen den Berg hinauf zu dem rundum von Wald eingerahmten Militärgelände. Die Amerikaner hatten einen grünen Sichtschutz aufgespannt, dahinter blieben sie den ganzen Tag über versteckt. Ob sie sich von dem bunten Völkchen beeindrucken ließen, dass da vor ihren Toren Friedenslieder sang und Reden schwang?
„Der Ami“ war bei Vielen in unserer Gegend nicht mehr Freund und Befreier, sondern zum Feind und Besatzer geworden. Seit dem Vietnamkrieg hatte die US-Armee ein Imageproblem. Dazu kam, dass die amerikanischen Soldaten immer ein Fremdkörper für uns geblieben waren, von meiner Großtante Marlies und ihrem Mann einmal abgesehen. Sie fuhren mit ihren eigenen Kennzeichen, sie blockierten mit Militärlastwagen unsere Straßen, sie besetzten in Heilbronn quasi ein gesamtes Stadtviertel, das nur aus Kasernen bestand. Hinzu kam, dass in meiner Kindheit bei uns im Dorf mit seinen 4000 Einwohnern selbst ein Franzose noch als Exot galt.
Die Raketen wurden 1990 abgezogen, die US-Soldaten in ihre Heimat beordert. Die Waldheide ist heute wieder das, was ihr Name sagt. Die Kasernen unten in der Stadt werden längst zivil genutzt und Soldaten und Panzer und tarnfarben gestrichene Fahrzeuge gehören schon lange nicht mehr zum Straßenbild in meiner Heimat. Manöver gab es bei uns seit vielen Jahren nicht mehr und die Panzer in Obereisesheim sind verblichen in der Erinnerung. Das Militär ist endlich aus dem Alltag verschwunden, könnte man sagen, aber das stimmt so natürlich nicht. Es beherrscht jetzt nur den Alltag anderer Leute, in Afghanistan und anderswo, und der Krieg ist nicht mehr gespielt.
Wenn ich heute meine Erinnerungen an das Militär in meiner Heimat hervorkrame, kommt mir vor allem ein Mann aus meinem Dorf in den Sinn. Alle nannten ihn nur „das Kläusle“, weil er nicht allzu groß gewachsen war. Ein Bild von ihm hält sich hartnäckig in meinem Gedächtnis. Da sitzt das kleine Kläusle mitten auf der Dorfstraße vor einem der mächtigen Panzer. Das Kläusle hielt so den ganzen Tross auf. Die Dorfbewohner bestaunten ihn ungläubig, in nicht wenige Blicke mischte sich Verachtung. Doch das Kläusle blieb einfach sitzen. Und versperrte den Weg. Die Leute redeten auf ihn ein, er solle den Weg freimachen. Doch das Kläusle blieb sitzen. Am Ende kamen ein paar kräftige Militärmänner und trugen ihn weg. Damals dachte ich wie alle im Ort: Was muss denn der da jetzt stören. Heute wünschte ich mir, dass der ganze Ort die Straße blockiert hätte.