Wenn Vogelschwärme über den Himmel ziehen, scheint es, als hätte eines der Tiere das Kommando. Doch in Wahrheit organisiert der Schwarm sich selbst.
Rom, Februar 2009, Bild der Wissenschaft
Wenn Andrea Cavagna aus dem Fenster seines Büros schaut, sieht er den Hauptbahnhof von Rom. Im Herbst drehen dort oft Starenschwärme ihre Pirouetten. Tagsüber machen sie die Umgebung der italienischen Hauptstadt unsicher, für die Nacht kehren sie ins Zentrum zurück. Bevor sich die Tiere auf ihre Schlafbäume setzen, tanzen sie am Himmel. Dann kann Andrea Cavagna mitten in Rom Bilder sehen wie die hier abgedruckten Fotos.
Cavagna ist Vogelforscher, aber ein untypischer: Statt Wanderschuhen und Allwetterjacke trägt er elegante Wollpullover und Jeans. Er ist auch nicht Biologe, sondern Physiker. An den Wänden seines Büros hängt eine Tafel, voll geschrieben mit komplizierten Vektorgleichungen.
Weil den 40-Jährigen der Anblick des fliegenden Balletts fasziniert, versucht er, den Schwärmen mit Methoden der statistischen Physik beizukommen. Vor rund vier Jahren sprach er mit Kollegen darüber, sie mit Hilfe des Computers eins zu eins zu rekonstruieren. Dann schrieb die EU ein Forschungsprojekt aus, das der Gruppe schließlich die nötigen Gelder gab. Es schien eine simple Sache zu sein.
Stare an der Engelsburg in Rom
Doch für Cavagna und seine Kolleginnen und Kollegen folgten zwei Jahre mit Überstunden, Rückschritten und der immer wiederkehrenden Angst, am Ende Schuld zu tragen für das Scheitern dieses großen Forschungsprojektes der EU, Starflag genannt, mit sieben Standorten in ganz Europa. Die Basis für die Forschung sollten die 3D-Daten aus Rom sein. Mit ihnen sollten „Systeme untersucht werden, die aus einer „großen Anzahl interagierender heterogener Agenten bestehen und oft komplexe Verhaltensweisen an den Tag legen, die nicht aus dem Verhalten eines einzelnen Agenten abgeleitet werden können“. Als Paradebeispiel diente der Starenschwarm.
Zunächst war es die Frage, ob es einzelne Leitvögel in einem Schwarm gibt. Heute steht die Antwort fest: ein klares Nein. Mit dem dreidimensionalen Modell sollten anschließend bisherige Annahmen über Vogelschwärme überprüft werden. Schließlich, und diese Phase des Projektes ist noch nicht abgeschlossen, sollten die Schwarmmuster en detail interpretiert werden und die Verhaltensweisen des Kollektivs, soweit möglich, auch auf Ansammlungen von Menschen übertragen werden. Forscher in dem Verbund untersuchten daher auch andere „heterogene Agenten“, beispielsweise Aktienhändler an der Börse.
Vögel können nur bis sieben zählen
„Das große Problem bei der Erstellung des Modells war das Matching“, sagt Irene Giardina, die nicht nur die Arbeit mit Andrea Cavagna teilt – die beiden sind ein Ehepaar. Matching bedeutet die Zuordnung gleicher Punkte zueinander auf verschiedenen Bildern. „Um die bereits bekannten Techniken dafür einzusetzen, brauchten wir ein Grundgerüst. Aber das hatten wir nicht.“ Die Forscher mussten die dazu nötigen Computerprogramme erst einmal entwickeln (siehe „Schwärme im Rechner – das römische Modell“).
Wenn Andrea Cavagna jetzt auf seinen Computer-Bildschirm schaut, kann er dort die Vogelschwärme vom Bahnhof sehen. Die Tiere sind stark abstrahiert: schwarze Punkte, die sich in einem Raum bewegen, der außer drei Koordinaten nichts, rein gar nichts zu bieten hat. Die Studien sind mit Erfolg abgeschlossen, und die Physiker haben mit ihren Bits und Bytes einige Annahmen der Biologen tatsächlich widerlegt. „Früher dachte man, die Vögel würden sich an den Tieren orientierten, die innerhalb eines bestimmten Abstands zu ihnen fliegen“, sagt Cavagna. „Heute wissen wir, dass die Vögel sich nach den sieben Tieren ausrichten, die ihnen am nächsten sind, unabhängig von deren Entfernung.“ Ein Schwarm würde sonst schnell instabil werden, wenn er sich ausdehnt. Und warum genau sieben? Das wisse man nicht sicher, sagt Andrea Cavagna.
An der Begrenzung des Blickwinkels liegt es nicht, Vögel haben meist 15 bis 20 Artgenossen im Blick. Vielleicht habe es damit zu tun, mutmaßt der Physiker, dass Tiere die Zahl von Gegenständen nur dann unterscheiden könnten, wenn sie nicht höher sei als sieben. Das haben Experimente gezeigt. Außerdem stellten die Forscher fest, dass die Tiere im Schwarm sich nicht näher kommen als eine Flügelspanne, also etwa 40 Zentimeter. Der Vogel, der am nächsten zu einem anderen Vogel fliegt, fliegt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit seitlich von diesem Tier. Doch diese Wahrscheinlichkeit sinkt mit jedem weiter entfernten Tier.
Die Flanke wird zum neuen Kopf
Die Forscher in Rom wollen jetzt die Bewegungen einzelner Vögel nachvollziehen. Das 3D-Modell hat schon gezeigt, dass ein Schwarm keine Kurve fliegt, sondern sich das ganze Gebilde neu ausrichtet: Der Vogel, der vorher den äußersten seitlichen Punkt des Schwarms bildete, wird zum Kopf, und was früher Anfang und Ende des Schwarms war, bildet die neuen Seiten. Es bleiben aber Fragen: Etwa wo Richtungsänderungen ihren Anfang nehmen und wie sie im Detail zustande kommen.
Stare am Tiber in RomEs ist überraschend, dass über Vogelschwärme noch längst nicht alles gesagt ist. Die wissenschaftliche Vogelkunde in Europa ist schon 300 Jahre alt, und seit noch viel längerer Zeit bestaunen Menschen dieses Phänomen, überall auf dem Erdball. Rund 50 Milliarden Zugvögel gibt es auf der Welt. Die meisten von ihnen reisen im Schwarm, wenige im Familienverbund und noch weniger allein. Wenn sich Schwärme auf Reisen machen, kommen Superlative zustande: Zuweilen umfassen sie mehrere Millionen Individuen. Die Tiere fliegen bis zu 10 000 Meter hoch ohne höhenkrank zu werden. Manche Arten legen Strecken von mehr als 50 000 Kilometern pro Jahr zurück. Nonstop geflogene Wege summieren sich manchmal gar auf 7500 Kilometer! Um die Energie für die Migration aufzubringen, „verzehren“ einige Vögel sogar Teile ihrer eigenen Organe.
Den Biologen Peter Berthold hat das Thema seit Langem gepackt. Der 69-Jährige sieht mit seinem dichten langen Bart ein wenig aus wie ein Märchenerzähler, und aus seinem Fenster schaut er auf eine fantastische Landschaft. Seine Arbeitskammer befindet sich in einem kleinen Schloss, das von einer Mauer und viel verwunschenem Grün umgeben ist. Wenn sich das Land dann noch, wie so oft am Bodensee, nebelverhangen und geheimnisvoll zeigt, ist das Bild perfekt. Aber es trügt: Berthold kann zwar tatsächlich fabelhaft von Staren erzählen, er ist aber ein renommierter Wissenschaftler. Und das Schloss gehört auch keinem Märchenprinzen, sondern es ist der Sitz der Vogelwarte Radolfzell. Sie ist ein Teil des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen.
In Radolfzell wurden grundlegende Versuche durchgeführt. Beispielsweise haben die Forscher wandernde Mönchsgrasmücken mit nicht-wandernden Kollegen von den Kapverdischen Inseln gekreuzt. Sie wollten wissen, ob die Neigung zur Migration vererbt wird. 40 Prozent der Jungvögel wollten auf Wanderschaft gehen. Auch was die Richtung anbelangt, ergibt sich ein ähnliches Bild: Die Kreuzungen von Vögeln mit unterschiedlicher Zugrichtung wählten weder die Richtung von Vater noch die von Mutter, sondern einen Mittelweg.
Gene dirigieren den Vogelzug
Daraus lässt sich nicht nur folgern, dass die Neigung zum Vogelzug und auch dessen Richtung vererbt wird, sondern auch, dass sie nicht über ein einfaches dominantes Gen weitergegeben wird. Wäre dem so, würden alle der gekreuzten Tiere sich gleich verhalten. Im Genom ist ein Großteil des Vogelzugs codiert: die Richtung, der Abflugtermin, die Flugdauer, ja selbst die zeitliche Verteilung der Flugaktivität und die körperliche Vorbereitung. Über die genauen Prozesse, die vom Gen zu der letztlich eingeschlagenen Flugrichtung seines Trägers führen, ist noch sehr wenig bekannt. Höchstwahrscheinlich werden die Vorgaben zur Reise nicht über einzelne Gene vererbt, sondern sind das Resultat eines Zusammenspiels mehrerer Gene. Das erklärt auch, warum Vögel ihr Zugverhalten binnen weniger Jahrzehnte an Umweltveränderungen wie den Klimawandel anpassen können.
Peter Berthold hat 1964 in seiner Doktorarbeit den Zusammenhang zwischen dem Vogelzug und dem Brutverhalten von Staren untersucht. Später war er Direktor der Vogelwarte, nun ist er seit drei Jahren emeritiert. Seinen Schreibtisch im Schloss hat er behalten; er kommt fast täglich ins Büro.
Nach wie vor arbeitet er auch viel draußen – und kennt daher auch die negativen Seiten des Vogelkollektivs: „Wenn die Stare aus Angst koten und man steht darunter, muss man die Kleidung hinterher wegwerfen. Das fühlt sich an wie ein Regenguss, und der Kot stinkt wie die Hölle.“ Früher, sagt Berthold, seien die Starenschwärme größer gewesen. „Hier im Bodenseegebiet hatten wir nach der Brutzeit Schwärme, die weit mehr als eine Million Individuen stark waren“, berichtet er. Doch vom ursprünglichen Bestand der Stare seien nur noch 25 Prozent übrig geblieben. In Rom freut das die Beamten der Stadtverwaltung, denn sie versuchen seit zehn Jahren jeden Herbst, die ungeliebten Übernachtungsgäste zu vertreiben. Dazu imitieren sie den Warnruf der Stare („Spetz! Spetz! Spetz!“), was die Anwohner amüsiert.
Der Biologe Berthold sieht im Schrumpfen der Schwärme ganz nüchtern ein Zeichen dafür, dass es den Staren an Nahrung fehlt. In extrem kargen Gegenden wie etwa in Finnland leben so wenige Stare, dass die Tiere sich alleine auf die Reise ins Winterquartier machen müssen, berichtet er. Wenn sie dabei auf einen Schwarm stoßen, schließen sie sich diesem an. Denn Stare neigen zur Geselligkeit. Freilich geht es dabei nicht um Geselligkeit als solche, sondern um handfeste Vorteile. Gemeinsam sind Stare stark und können Angriffe von Todfeinden besser abwehren. Entdeckt ein Vogel im Schwarm einen Feind, stößt er entweder einen lauten Warnruf aus, so dass alle anderen informiert sind, oder er dreht abrupt ab und die anderen Tiere folgen ihm. Anschließend verdichtet sich der Schwarm. Berthold hat sogar schon beobachtet, wie ein Schwarm den Angreifer in seine Mitte genommen hat. Die Tiere fliegen dann so eng beieinander, dass der Greifvogel unfähig ist, sie zu attackieren. Greifvögel konzentrieren sich beim Beutefang nämlich immer auf einzelne Tiere. „Oft wurde schon beobachtet, dass der Beutejäger unten einfach heraus fiel, weil er in der Masse der Tiere flugunfähig war“, berichtet Berthold. „Die Stare schießen dann mit vielleicht siebzig Kilometern pro Stunde davon – und weg sind sie!“ Auch bei der Nahrungssuche profitieren letztlich alle Tiere vom Schwarm, weil dieser den größeren Überblick hat. Und: die Tiere sparen Energie durch den Formationsflug. Sie nutzen nämlich den Auftrieb durch den Flügelschlag des voraus fliegenden Vogels. Auf längeren Strecken wechseln die Tiere regelmäßig die Position.
Das Anfliegen der nächtlichen Ruhestätte bestimmen die Feinde mit. ebenfalls Das von Cavagna fotografierte Tanzen ist letztlich die Folge davon, dass die Fressfeinde natürlich wissen, wo es etwas zu holen gibt: nämlich dann, wenn die Vogelmassen auf dem Flug zum Schlafplatz sind. Um die Gefahr zu mindern, erfolgt das Anfliegen und Sondieren der Schlafgelegenheiten deshalb in der Gruppe. Oft brechen die Tiere den Anflug ab, wenn ein Feind in Sicht ist. Erst wenn alles sicher ist, beginnen die Tiere sich niederzulassen – und übrigens auch erst, wenn es dunkel genug geworden ist. Damit endet dann das Pirouettendrehen.
Aus Fossilfunden weiß man, dass das Zugverhalten schon sehr früh in der Evolution entwickelt hat: So haben Forscher in Kanada Fossilien von Fisch fressenden Vögeln gefunden, die dort im Winter kein Futter gefunden hätten. Es mussten also Zugvögel sein. Das Zugverhalten entstand nicht etwa, wie man meinen könnte, in Regionen mit unterschiedlichen Jahreszeiten, sondern in den Tropen und Subtropen – vermutlich, weil die Populationen dort so stark anwuchsen, dass einzelne Tiere Ihr Futter weiter entfernt zu suchen begannen. Die Theorien gehen hier aber weit auseinander.
Flucht aus dem Eiskeller Europa
Israel passieren so viele Vögel wie an keinem anderen Ort der Welt auf ihrem Zug. Vogelkundler schätzen die Gesamtzahl der Vögel aller Art, die Israel im Herbst und im Frühjahr überfliegen, auf eine halbe Milliarde. Yossi Leshem, ein Ornithologe an der Universität von Tel Aviv, hat festgestellt, dass die Zahl der Stare mittlerweile extrem gesunken ist: „Bis vor zwanzig Jahre kam eine Population mit rund fünf Millionen Individuen hierher. Dann sank die Zahl auf einige zehn- bis hunderttausend Tiere. Wir wissen immer noch nicht, wie es dazu kam. Inzwischen werden es wieder mehr.“
Doch wenn es mit dem Klimawandel weitergehen sollte wie bisher, könnte es bald mit dem uralten Phänomen des Vogelzuges vorbei sein, befürchten die Experten. Auch in Israel: wenn nämlich die Stare zuhause im warmen Russland das ganze Jahr über genügend Futter finden und keinen Grund mehr haben, sich auf die lange und beschwerliche Reise zu machen.