Stuttgart, 9. September 2006, Stuttgarter Zeitung
Ich heiße Sandro Mattioli, und wenn ich meinen Migrationshintergrund suchen sollte, wüsste ich nicht, wo. Zu Hause habe ich eine Mutter und einen Vater. Meine Mutter mag es, wenn man nach dem Spülen das Waschbecken abtrocknet. Mein Vater kehrt jede Woche den Hof, und er freut sich, wenn es den Vögeln gut geht – Wellensittiche und Kanarienvögel, eingewanderte Tiere, mit Migrationshintergrund also.
Meine Mutter heißt Sigrid, mein Vater Pantaleone. Pantaleone – da muss doch im Hintergrund mal eine Migration stattgefunden haben? Richtig, im Jahr 1960. Seitdem ist mein Vater deutscher als mancher Deutsche geworden, auch wenn sein Pass ein italienischer ist. Mein Vater wird für viele auf ewig mein Migrationshintergrund bleiben, obwohl ich immer alles deutsch gemacht habe und eine italienische Schule nur mal beim Austausch von innen gesehen habe, was gereicht hat.
Man muss Vordergrund und Hintergrund sauber auseinander halten, sonst weiß man nicht, wo man steht. Doch jetzt drängt der Migrationshintergrund in den Vordergrund.
Früher hielt ich mich für einen Schwaben, für einen aus meinem Dorf. Ich wurde gehänselt wegen meines Namens, Sandra, Ravioli, Mafiosi. Erst spät habe ich verstanden, was Namen eigentlich sind: Bilder. Ein Tisch ist ein Tisch und ein Mehmet immer ein Mehmet. Und wenn Mehmet sich am Telefon meldet, weiß sein Gegenüber, mit wem er es zu tun hat. Oder er glaubt es zumindest zu wissen. Wenn sich dagegen ein Markus meldet, weiß man nichts.
Auch das Wort Migrationshintergrund entwickelt sich mehr und mehr zu einem solchen Bild. Darin liegt die Gefahr dieses Begriffs. Der Migrationshintergrund von Menschen wird immer dann wichtig, wenn es um Probleme geht. Selten liest oder hört man von den Vorzügen der Einwanderung, von der Innovation, die mit den Menschen ins Land kommt oder von der Motivation dieser Menschen, in der Gesellschaft nach oben zu kommen. Meist ist die Sicht pessimistisch. Es fällt auch schwer, optimistisch zu sein, solange der baden-württembergische Innenminister, der zugleich der Landesbeauftragte für Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler ist, in Pressekonferenzen vom Migrationshintergrund direkt zur Kriminalität springt.
Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte die kriegsgeschwächte Frauenrepublik Deutschland neue Arbeitskräfte. Seitdem wird das Land zu einem Einwanderungsland, aber es tut sich schwer mit dieser Entwicklung. Migrationshintergrund, das nun nötige Wort, klingt präzis, beschreibt aber nichts richtig. Mit der Veröffentlichung des Mikrozensus 2005 ist das Wort zum amtlichen Begriff avanciert. Es hat es binnen kürzester Zeit in die Zeitungen gebracht. Leider wird es längst nicht mehr nur im wissenschaftlichen Kontext gebraucht. Forscher hatten sich einst gefreut, einen wertfreien Begriff zu haben, der die Aus- und Übersiedler, die Arbeitsemigranten und Rückkehrer umfasst, kurz: einen Begriff, der die Bürgerschaft in Deutschland aus Ganz- und Halbausländern, ausländischstämmigen und deutschstämmigen Menschen beschreibt. Doch von Wertfreiheit kann keine Rede mehr sein. Der Migrationshintergrund ist zu einem Wort geworden, das ausgrenzt. Ist etwa bei Miroslav Klose die Rede vom Migrationshintergrund? Oder bei Günter Grass? Nein, einen Migrationshintergrund hat der Türke, der bei H & M eine Jacke stiehlt, der Kosovo-Albaner, der mit Drogen dealt, und der Spätaussiedler, der andere Jugendliche verprügelt.
Fünfzehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland. Die Behörde definiert sie so: „Zu der Bevölkerungsgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zählen neben den zugewanderten Ausländern und den in Deutschland geborenen Ausländern auch bestimmte Teile der Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit. Dazu gehören eingebürgerte Ausländer oder Spätaussiedler mit persönlicher Migrationserfahrung sowie Kinder von Spätaussiedlern oder eingebürgerte Kinder von Ausländern, die keine eigene Migrationserfahrung haben.“ Johannes Hahlen, der Präsident des Bundesamts, stellte im Mai den Mikrozensus 2005 vor und fasste zusammen: „Es gibt mehr Deutsche mit Migrationshintergrund als Ausländer.“ Manch einer mag da nicht mitgekommen sein.
Das Problem ist: während ein Amerikaner einen Amerikaner mit Migrationshintergrund als Amerikaner wahrnimmt, bleibt der Deutsche mit Migrationshintergrund für viele Deutsche ein Ausländer oder zumindest einer, der nicht richtig dazugehört. Dabei war nationale Homogenität in Deutschland nie Realität, und das Streben nach ihr hat auch nie zu etwas Gutem geführt.
Ein erster Schritt auf dem Weg zum Migrationshintergrund war das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, kurz Bundesvertriebenengesetz genannt. Im Mai 1953, bevor die ersten Gastarbeiter kamen, legte dieses Gesetz den Grundstein für eine Einwanderungsbewegung, die viele Jahre später einen neuen Begriff für die Statistik und die Forschung nötig machte. Als schließlich Ende der achtziger Jahre der Eiserne Vorhang fiel, zogen viele Deutschstämmige zurück in ihre frühere Heimat, zu viele, als dass man die neuen Deutschen in Deutschland nicht als Extragruppe erfassen wollte. Die Essener Pädagogikprofessorin Ursula Boos-Nünning benutzte bald ein neues Wort, um diese und die anderen Zugezogenen zu beschreiben: Migrationshintergrund. Die Wissenschaftlerin verfolgte gute Absichten. Sie wollte weg von der Definition allein über den ausländischen Pass. Sie wollte eine allgemeine Diskussion.
Doch was sie bekam, sagt Boos-Nünning, war eine Abschottung nach außen und einen erhöhten Druck nach innen, sich zu assimilieren. Inzwischen wird der Migrationshintergrund in der Forschung auch darüber definiert, ob die fremde Sprache zu Hause gesprochen wird. Die Pädagogin erinnert sich noch, wie viele ihrer Gesprächspartner aus der Politik zusammenschreckten, wenn auf einmal nicht mehr die Rede von neun Prozent Ausländern war, sondern davon, dass in manchen Kommunen vierzig Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben. Auch im Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998, für den die Professorin einige Kapitel verfasste, verwendete sie das Wort. Sogar Bundespräsident Johannes Rau ließ nachfragen, wie sie darauf komme, dass dreißig Prozent der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund hätten.
Wir Italiener haben es gut. Der Deutsche isst gerne Spaghetti, auch wenn mein Opa damals immer nur Spargeddi über die Lippen brachte, und die Deutschen viel zu viel Hackfleisch in die Bolognese-Soße werfen. Ansonsten haben wir Italiener wenig Probleme. Das Gerede über die Mafia erfolgt mehr aus Freude am Klischee denn als Schimpfen über die Italiener. Nicht nur die Küche, auch dieses sizilianische „Geschäftsmodell“ hat sich international durchgesetzt.
Anders ergeht es all den Menschen, die sich damit herumplagen müssen, dass andere mit der gleichen Religion zu Gewalttätern werden. Für einen Türken ist es sicher weit schwieriger, den Migrationshintergrund angepappt zu bekommen als für die unumstritten zu Europa gehörenden Italiener. Da hilft auch die Küche des Landes nicht weiter, deren bekanntestes Gericht sich hier bestens etabliert hat: In Deutschland wird mehr Kebab verkauft als Hackfleisch für Bolognese-Soße. Und es wird auch mehr Fleisch als Döner gegrillt als in Form von Bouletten zwischen Fastfood-Schaumstoffbrötchen gelegt.
Früher war es schwierig, einen deutschen Pass zu bekommen. Vor sieben Jahren hat die rot-grüne Koalition das Einbürgerungsprocedere reformiert. Aber man wird weiterhin nur Deutscher zweiter Klasse, einer mit Migrationshintergrund. Vielleicht ist das Deutschwerden deswegen nicht mehr so beliebt: Im Jahr 2000, als das Staatsbürgerschaftsrecht eingeführt wurde, sind fast 187 000 Menschen Deutsche geworden. Seither gehen die Zahlen zurück. 2005 wurden 117 000 Menschen eingebürgert.
„Allgemeine politische Anforderungen“ hätten dazu geführt, dass das Wort in den Mikrozensus 2005 gerutscht ist, sagt ein Mitarbeiter des Statistischen Bundesamts.
Der Gesprächspartner will nicht namentlich zitiert werden und wird schnell grundsätzlich. „Wir haben ja Platz für die ganze Welt“, schimpft er. Ob der Begriff Migrationshintergrund von der rot-grünen Koalition oder der großen Koalition eingebracht worden ist, weiß er nicht. Es könnte beides sein.
Stimmt. Denn mit der Tatsache, dass fünfzehn Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben, kann man hervorragend argumentieren – je nach politischer Ausrichtung. Man kann sagen: Seht, wir sind doch längst ein Einwanderungsland! Oder man kann vor dem Untergang des Deutschtums warnen. So lässt sich das Wort leicht missbrauchen.
Ich bin gespannt, was sein wird, wenn ich Kinder habe. Haben die dann noch einen Migrationshintergrund – schließlich hat ihr Vater zwei Staatsbürgerschaften? Oder zeuge ich die Kinder nur als Deutscher? Vielleicht aber ist es eines Tages gar nicht mehr wichtig, ob jemand einen Migrationshintergrund hat. Falls doch, werde ich gerüstet sein. „Euer Goethe“, werde ich dann als Italiener rufen, „Euer Goethe ist jetzt nicht mehr euer Nationaldichter!“ Und wenn man mich verblüfft anschauen wird, werde ich den Trumpf aus dem Ärmel ziehen: ein Buch von Robert Sommer aus dem Jahr 1922. „Euer Johann Wolfgang Goethe hat auch einen Migrationshintergrund“, werde ich sagen und auf seine orientalischen Vorfahren hinweisen. Urahnen von Goethe, eine Familie Soldan, sollen nach Sommers Recherchen aus dem Gebiet der heutigen Türkei eingewandert sein – knapp 450 Jahre vor seiner Geburt.